Astronomie ohne Teleskop – Unklare Sachlage

Von Steve Nerlich in Universe Today – Übersetzt von Harald Horneff 
Der Magellansche Strom zieht sich hinter der Großen und Kleinen Magellanschen Wolke dahin, die als zwei helle Konturen unterhalb der galaktischen Scheibe der Milchstraße auf der rechten Bildseite sichtbar sind. Das Material vor den Wolken wird Leading Arm (in etwa Führender Arm) genannt.
magstromRosa ist Falschfarbe: Strom und Arm sind nur im Radiowellenbereich sichtbar. Quelle: Nidever et al.
Die meisten Menschen stimmen der Behauptung zu, daß sich die Magellanschen Wolken im Einflußbereich der Milchstraße bewegen. Unklar ist aber, ob es sich um eine gebundene Umlaufbahn oder um einen zeitlich begrenzten Vorbeiflug handelt. Zur Klärung dieser Frage könnte der Magellansche Strom hilfreich sein, eine 600.000 Lichtjahre lange Gasschleppe, die die Kleine (KMW) und Große Magellansche Wolke (GMW) hinter sich herziehen. 
Zum vollständigen Bild gehört auch ein oberhalb der Wolken entspringender kürzerer Gasschweif – als Leading Arm bekannt – und ein Gasstrom zwischen den Wolken, den man als die Magellansche Brücke kennt. Die Brücke ist ein Hinweis darauf, daß die Wolken durch die Schwerkraft zu einem Paar verbunden sind – zumindest bis jetzt. Die GMW könnte die KMW hinter sich herschleppen, denn der Magellansche Strom sieht wie eine Bremsspur aus und seine Bestandteile sind chemisch den Bestandteilen der KMW sehr ähnlich. 
Ungelöst bleibt dadurch dennoch die Frage, ob die Wolken sich in einer gebundenen Umlaufbahn um die Milchstraße bewegen – oder ziehen sie nur vorbei? Der Grad an Unsicherheit über die Dynamik von Objekten, die uns ziemlich nahe stehen und die schon mit dem unbewaffneten Auge leicht zu sehen sind, scheint überraschend zu sein. 
So ist es schwierig, eine genaue Geschwindigkeitsabschätzung für die jeweilige Wolke in Bezug auf die Milchstraße zu bekommen – bedingt dadurch, daß wir, die Beobachter, unsere eigene unabhängige Bewegung besitzen und wir ein Referenz-Bezugssystem benötigen, gegen das wir die Geschwindigkeit der Wolken zuverlässig messen können. 
Schätzungen leiteten sich aus Beobachtungen von Kallivayalil und Kollegen mit dem HST in 2006 ab, bei denen die Geschwindigkeiten der Wolken gegen einen Hintergrund entfernter Quasare, die durch die Wolken zu sehen sind, gemessen wurden. Diese Daten verwendeten dann Besla und Kollegen um zu begründen, daß die Geschwindigkeiten der Wolken für eine gebundene Umlaufbahn zu hoch sind und sie daher vorbeiziehen müssen. 
Es gibt noch einen weiteren Unsicherheitsfaktor: gerade mit der abgeleiteten Geschwindigkeit der Wolken muß man entscheiden, welche Entweichgeschwindigkeit die Wolken benötigen, um nicht in einem gebundenen Orbit um die Milchstraße gefangen zu werden. Obwohl wir die Masse der Milchstraße abschätzen können, bleibt die Dunkle Materie ein Streitpunkt. Da wir sie nicht sehen und demzufolge nicht genau lokalisieren können, gibt es eine gewisse Unsicherheit darüber, wie die vereinigten Massen der Milchstraße, sichtbare und Dunkle Materie, verteilt sind. 
Wenn die Dunkle Materie wie die sichtbare Materie um das galaktische Zentrum konzentriert ist, benötigten die Wolken keine allzu große Geschwindigkeit, um zu entkommen. Wenn aber die Dunkle Materie gleichmäßiger verteilt ist, in Form eines kugelförmigen Halos um die galaktische Scheibe aus sichtbarer Materie, dann ist es allerdings unklar, ob die Wolken entkommen können (ein Szenario, daß von Besla et al. eingeräumt wurde). 
Ein kugelförmiger Halo aus Dunkler Materie ist das allgemein bevorzugte Modell bei der Verteilung der Gesamtmasse der Milchstraße. Ohne diesen Halo müssten die äußeren Bereiche der sichtbaren Scheibe so schnell um das galaktische Zentrum rotieren, daß sie in den Raum hinaus fliegen sollten. 
Von dieser Idee ausgehend haben Diaz und Bekki bei ihrem Computermodell einer Milchstraße eine Umlaufgeschwindigkeit von 250 km/s (eine ganz neue Abschätzung) angesetzt. Dies erfordert einen wesentlich massereicheren Halo aus Dunkler Materie als Besla et al. angenommen haben. Im Übrigen benutzten Diaz und Bekki die gleichen Wolkengeschwindigkeiten, die aus den Beobachtungen mit dem HST im Jahr 2006 abgeleitet wurden. 
magstrom2Links: Der Magellansche Strom aus neutralem Wasserstoff erstreckt sich aufwärts an der GMW (rot) und KMW (grün) vorbei. Rechts: Ein mittels Computer modelliertes Scenario, in dem beide Wolken auf einer gebundenen Umlaufbahn die Milchstraße umkreisen. Der größte Teil der Strukturen des Stroms, der Brücke und des Leading Arm sind nachmodelliert – und man findet sogar, daß das Material aus der KMW stammt. Quelle: Diaz und Bekki
Das Modell von Diaz und Bekki legt, wenn man in der Zeit zurückgeht, nahe, daß die Wolken seit mehr als 5 Milliarden Jahren die Milchstraße in einer gebundenen Umlaufbahn umkreisen. Doch sind der Magellansche Strom und der Leading Arm erst kürzlich als Folge einer nahen Begegnung der beiden Wolken entstanden (eine Idee, die auch von Besla et al. in ihrem ungebundenen Bahnmodell entwickelt wurde). 
Diaz und Bekki schlagen vor, daß die Wolken in eigenständigen Umlaufbahnen die Milchstraße zu umkreisen begannen, dann aber dicht aneinander vorbeiflogen und dadurch vor etwa 1.25 Milliarden Jahren zu dem Paar wurden, daß man heute beobachtet. Der Leading Arm ist freigesetztes Gas, das in den Halo der Milchstraße gezogen wird – ein Hinweis darauf, daß beide Wolken möglicherweise von unserer Galaxis aufgesogen werden.
 
Weiterführende Literatur (im Internet zu finden unter):
arXiv:1101.2500v1
Jonathan Diaz & Kenji Bekki
Constraining the orbital history of the Magellanic Clouds:
A new bound scenario suggested by the tidal origin of the Magellanic Stream (2011)