Die Geschichte über anormale Vorbeiflüge (Flyby) an der Erde beginnt mit der Raumsonde Galileo im Dezember 1990 – bei der man eine Geschwindigkeitszunahme (zumindest gegenüber dem vorher-gesagten Wert) von 2.5 mm/s im Perigäum gemessen hatte. Während ihres zweiten Vorbeiflugs im Dezember 1992 war jedoch der vorhergesagte Wert genau so groß wie der beobachtete, auch wenn man davon ausging, daß Auswirkungen des atmosphärischen Widerstands jede Auswertung dieses Vorbeiflugs zunichtemachen könnte.
Die nächste und größte bisher entdeckte Anomalie fand man 1998 beim Vorbeiflug der Raumsonde NEAR (sage und schreibe ein Anstieg von 7.2 mm/s im Perigäum über dem vorausgesagten Wert). Im Jahr 2005 zeigte dann Rosetta bei ihrem ersten Vorbeiflug eine Anomalie. Daraufhin entwickelten im Jahr 2007 Anderson et al. eine quantitative Formel, um die bis dahin erfolgten Vorbeiflüge nachzu-stellen – und sagten einen kleinen, aber meßbaren Geschwindigkeitsanstieg beim zweiten Vorbeiflug von Rosetta am 13. November 2007 voraus. Jedoch (oder sollte man sagen regelwidrig) wurde weder bei diesem noch beim dritten Vorbeiflug (2009) von Rosetta ein Geschwindigkeitsanstieg gemessen.
Unterm Strich verhält sich eine Raumsonde (und oftmals die gleiche Raumsonde) vermutlich eher wie vorhergesagt denn wie unnormal. Dies verringert (aber verneint nicht) die Wahrscheinlichkeit, daß die Anomalie etwas von Bedeutung ist. Man könnte klugerweise festhalten: das hin und wieder eine Anomalie nicht vorkommt ist für sich selbst genommen keine Anomalie.
2009 hat nun Mbelek vorgeschlagen, daß die Daten der anormalen Vorbeiflüge (einschließlich der von Anderson et al. hergeleiteten Formel) durch eine striktere Anwendung der Grundsätze der Speziellen Relativitätstheorie erklärt werden können und
Dann gibt es noch die Pioneer-Anomalie. Diese Anomalie hat keinen erkennbaren Zusammenhang mit den „Vorbeiflug-Anomalien“, ausgenommen die Verwendung des Wortes Anomalie. Dies liefert uns einen weiteren erkenntnistheoretischen Grundsatz – zwei nicht in Verbindung stehende Anomalien ergeben noch keine gemeinsame größere Anomalie.
Ungefähr zwischen 20 und 70 AU von der Erde entfernt, zeigten Pioneer 10 und 11 eine winzige, aber unerwartete Abbremsung von etwa 0.8 Nanometer/Sekunde2 – obwohl auch wieder nur von einem beobachteten Wert gesprochen wird, der von dem vorhergesagten Wert abweicht.
Einige wesentliche Größen, die bei der Berechnung des vorhergesagten Wertes nicht bedacht wurden, sind der Strahlungsdruck der von Sonnenlicht erhitzten Oberflächen sowie die innere Strahlung, die durch die der Raumsonde eigenen Energiequelle (RTG) erzeugt wird. Ein auf den neuesten Stand gebrachter Bericht der Planetarischen Gesellschaft über die Daten von Pioneer läßt erkennen, daß die neu überarbeiteten vorhergesagten Bahnwerte nun eine geringere Abweichung von den beobachteten Werten zeigen. Nochmals: dies soll die Anomalie nicht leugnen – aber es gibt den Trend wieder, daß eine genaue Überprüfung den Unterschied zwischen Vorhersage und Beobachtung verringert. Man kann durchaus sagen, daß auch diese Anomalie weniger bedeutungsvoll wird.
Aber um nicht falsch verstanden zu werden: es handelt sich um ausgesprochen nützliche Wissenschaft und lehrt uns mehr darüber, wie unsere Raumsonden dort draußen im All arbeiten. Ich bin nur der Auffassung, daß, wenn man mit einer Datenanomalie konfrontiert wird, unsere erste Reaktion sein sollte „Na so was“ und weniger mit Oh mein Gott!
Von Steve Nerlich in Universe Today. Übersetzt von Harald Horneff