Gammachamäleon

Dr. Ilka Petermann

Sie sind schwer zu entdecken und sehr selten. Sie kommen in den unterschiedlichsten Umgebungen vor, leben erstaunlich lange oder nur ganz kurz und haben einige ausgesprochen spezielle, schillernde und wechselhafte Eigenschaften: Gammastrahlenausbrüche mit ihren vielen zum Teil noch sehr spekulativen Vorläuferobjekten leuchten und blitzen chamäleongleich am Himmel auf (Abb.1), verschwinden gleich darauf wieder wie einer der besonders gut getarnten Leguane in den Weiten des (Weltall-)Dschungels und strecken Astronomen auch öfter mal die Zunge raus, wenn sie sich einem einfachen Erklärungsversuch mal wieder entzogen haben.

Abb.1: Der bis heute energiereichste Gammastrahlenausbruch mit 94 Milliarden Elektronenvolt, der sich ungefähr 3,6 Milliarden Lichtjahre vom Sonnensystem entfernt ereignete. Credit: NASA, DOE, Fermi LAT Collaboration

Die Gamma-Astronomie befasst sich mit der Beobachtung von Photonen der höchsten Energien. Während es das sichtbare Licht auf Energien von einigen wenigen Elektronenvolt bringt, können Gammaquanten mit mehreren hunderttausend Elektronenvolt auftrumpfen – damit haben sie mehr Energie als das Ultraviolett (bis etwa 120 Elektronenvolt) oder die Röntgenstrahlung (etwas mehr als 120 Elektronenvolt).

Während man die Photonen des sichtbaren Lichts (oder auch der UV- und Infrarotstrahlung) gut zu Hause produzieren kann, sind die Gammastrahlen wie die exotischsten Vertreter der Chamäleons nicht für die Heimhaltung geeignet. Gammaphotonen entstehen ausschließlich in den heißesten Objekten des Universums oder in Materieströmen mit den höchsten Beschleunigungen. Für ihre Entstehung müssen kernphysikalische Prozesse stattfinden, ein einfaches ‘Elektronenspringen’ im Atom reicht für die Energieprotze nicht mehr aus.

Und so wenig wie ein Chamäleon an einer einzelnen Farbe hängt, so bunt ist auch die (in manchen Fällen auch erst theoretisch vermutete) Herkunft von Gammastrahlung, die mit den extremsten ‘Lebensphasen’ von kosmischen Objekten verknüpft ist: so kann sie etwa in Molekülwolken (den Geburtsstätten von Sternen) oder Starburstgalaxien entstehen, jenen Galaxien, in denen in kürzester Zeit eine enorme Anzahl neuer Sterne entsteht. Gammaphotonen blitzen in den letzten Sekunden eines Sterns, der zur Supernova wird, oder wenn Materie mit extremen Beschleunigungen auf das kompakte Ende eines Sterns, ein stellares Schwarzes Loch, zurast. Auch wenn in Aktiven Galaxienkernen heiße Materie von einem galaktischen Schwarzen Loch akkretiert wird, kann das hoch aufgeheizte Gas Gammaphotonen abgeben. Und genauso darf die Dunkle Materie in dem Reigen nicht fehlen, wäre es doch einigen Modellen nach möglich, dass bei Annihilationsprozessen jener Materie die hochenergetische Strahlung entsteht.

Während nun in der heimischen Küche energiereicher meist auch besser bedeutet (Schokoladencremetorte oder Zucchini-Gemüse…), ist es in der Astronomie leider ein wenig verzwickter: Sichtbares Licht können wir mit bloßem Auge oder einfachen Teleskopen registrieren. Radioteleskope sind zwar unhandlich, aber in unbebauten Flächen durchaus aufbaufähig. Für Gammaphotonen dagegen muss man etwas tiefer in die Teleskoptrickkiste greifen, werden die hochenergetischen Energiebündel doch nicht von Linsen gebrochen oder Spiegeln reflektiert. Zur Beobachtung bedient man sich daher Szintillationszählern in Satelliten oder eines ‘schaurigen’ Umwegs auf dem Erdboden.

Szintillationszähler bestehen aus einem (organischen oder anorganischen) Material, dessen Moleküle beim Durchgang von energiereichen Photonen angeregt werden und die Anregungsenergie anschließend in Form von sichtbarem Licht wieder abgeben (der Szintillator). Dieses Aufleuchten könnte man im Prinzip zählen, doch ist eine Weiterverarbeitung zweckmäßiger. Dazu werden die (oft nur schwachen) Lichtsignale verstärkt (der Photomultiplier) und in elektrische Signale umgewandelt, die weiterverarbeitet werden können. Durch den ‘Sandwich-artigen’ Aufbau des Szintillationszählers kann nicht nur der Durchgang eines Photons registriert, sondern auch seine Flugrichtung und damit Herkunft eingegrenzt werden.

Nur allzu viel Zeit lassen darf man sich in den meisten Fällen nicht…

Das kurzlebigste Landwirbeltier der Erde, das Chamäleon ‘Furcifer labordi’ aus dem Südwesten Madagaskars, schlüpft schon mit der ‘Torschlusspanik’ im Nacken: mit nur zwei Monaten werden sie geschlechtsreif und müssen ihre To-Do-Liste dann flugs abarbeiten bis sie im ‘Alter’ von vier bis fünf Monaten sterben. Andere Arten erreichen aber auch das ‘Teenageralter’ mit geradezu goldenen 15 Jahren.

Auch die Gammablitze kann man grob in zwei Kategorien einteilen: die langen Vertreter dauern im Mittel gut 30 Sekunden, kurze dagegen weniger als zwei Sekunden – wobei sie allerdings mehr Energie abstrahlen als etwa die Sonne in zehn Milliarden Jahren freisetzt!

Unter den langen Gammablitzen tun sich einige durch besonders ausgedehnte Strahlerei hervor: GRB-060218 etwa brachte es auf 33 Minuten, GRB-110328A sogar auf eine rekordverdächtige Länge von mehreren Wochen. Mit 200 Sekunden gehörte GRB-050904 auch zu den längeren Gammablitzen, doch hielt das Ereignis zum Zeitpunkt seiner Entdeckung im September 2005 einen anderen Rekord: es kam aus einer Region, die 12,7 Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt liegt und war damit das damals zweitälteste bekannte Ereignis im Universum (Abb.2a). Da können Chamäleons dann zwar nicht ganz mithalten – doch mit fossilen Vertretern, die vor 26 Millionen Jahren in Europa lebten gehören die Reptilien immerhin mit zu den ältesten noch lebenden Tiergattungen der Erde.

Abb.2: Aufnahmesequenz des ‘Southern Observatory for Astrophysical Research‘, die das infra-rote Nachleuchten des Gammastrahlenblitzes GRB-050904 zeigt. Der 200 Sekunden dauernde Blitz war bis zur Entdeckung des Gammablitzes GRB-080913 im Jahr 2008 der von der Erde aus am weitesten entfernte Gammablitz – und damit eines der ältesten bekannten Ereignisse im Universum. Credit: Dr. Daniel Reichart

Bei kurzen Gammablitzen ist nicht nur das Ereignis selbst schnell wieder vorbei, auch das Nachleuchten im optischen Bereich verschwindet sehr viel schneller als bei den langen Verwandten. Bei knapp einem Drittel der kurzen Gammablitze folgt ein Röntgenstrahlen-Ausbruch, der bis zu 100 Sekunden andauern kann und stark veränderlich ist. Da die restlichen gut 70 Prozent dieses Verhalten nicht zeigen, geht man davon aus, dass verschiedene Entstehungswege- und -mechanismen zu den Ereignissen führen. Welche genau das sind, ist noch nicht vollständig geklärt und Gegenstand aktueller Forschung.

In afrikanischen Mythen schneiden Chamäleons, der Kontinent stellt das Hauptverbreitungsgebiet der Tiere, nicht immer gut ab. So stehen sie zwar manchmal als Symbol für die Zeit selbst, da sie mit ihren Rundumblick-Augen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erblicken scheinen, oft sind sie aber auch mit dem Tod verknüpft, sollen sie doch in ferner Vergangenheit durch ihre Langsamkeit den Menschen die Unsterblichkeit vermasselt haben. Und auch die Gammaastronomie erhielt erste Impulse aus einem eher misstrauischen Blick auf das Weltgeschehen.

Die erste Entdeckung von Gammastrahlenblitzen erfolgte mit Überwachungssatelliten, die weniger in die Weiten den Weltraums, sondern der Sowjetunion auf die Finger schauen sollten. Die Vela-Satelliten der USA (Abb.3) umkreisten die Erde mit dem Ziel, oberirdische Atombombentests über die Gammastrahlung zu detektieren und damit den ‘Vertrag über das Verbot von Atomwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser’ zwischen den USA, Großbritannien und der UdSSR zu überwachen. Die mysteriösen Blitze, welche die Satelliten aufzeichneten, zeigten allerdings nicht das millisekundenlange Aufblitzen mit langsamem Abklingen, wie man es von einer Kernwaffenexplosion erwarten würde… So wurde den Wissenschaftlern dann recht schnell klar, dass es sich um ein anderes Phänomen handeln muss und die Veröffentlichung von 1973 sprach bereits von ‘Gammastrahlungs-Blitzen kosmischen Ursprungs’ (Originaltitel: „Observations of Gamma-ray bursts of cosmic origin“ in The Astrophysical Journal, 182:L85-L88, 1973 June 1). Die Publikation blieb nicht lange allein: zwischen 1973 und 2001 beschäftigten sich über 5300 Arbeiten mit dem strahlenden Thema.

Blieb nur noch die Frage nach dem optischen Gegenstück: welches Objekt produziert Gammablitze – welche Eigenschaften hat es, in welchem Entwicklungsstadium befindet es sich und was ist der ‘Startschuss’ für einen Blitz? Durch ihre kurze Dauer ist es nicht einfach möglich, ein (optisches, Radio-,…) Teleskop auf den Ort des Geschehens zu richten um das Objekt genauer zu untersuchen. Da geht es den Gammablitzforschern wie Terrariumbetrachtern: Kaum hat man das Chamäleon entdeckt, ist es auch schon wieder gut getarnt hinter Blättern verschwunden und verharrt ganz hartnäckig.

Abb.3: Die Vela-5A- (oben) und Vela-5B- (unten) Satelliten bei der Montage im Reinraum. Ihr Erfolg für die Gamma-Astronomie war ‚bombig‘ – ihr eigentliches Ziel war dagegen die Überwachung der Einhaltung des Atomwaffentest-Stops in den 1960ern. Credit: Los Alamos National Laboratory

In den folgenden Jahren machten sich dann sowohl Weltraum- als auch irdische Teleskope auf eine strukturiertere Suche. ‘OSO 3’, Teil einer ganzen Serie kleinerer (Sonnenbeobachtungs-)Satelliten der NASA, entdeckte 1967 mehrere Gammaquellen entlang der Milchstraße und nur wenige Jahre später, in den 1970ern, wurden bereits die ersten ‘Gammakarten’ von Satelliten der NASA (SAS-2) und ESA (COS-B) erstellt. Schwere Geschütze wurden mit dem über 15 Tonnen wiegenden Satelliten ‘Compton Gamma Ray Observatory’ aufgefahren, der im Rahmen des ‘Great Observatory Program’ der NASA geplant wurde (seine nicht minder berühmten Geschwister dieser Serie sind das Hubble Teleskop, das Chandra X-Ray Teleskop und das Spitzer Teleskop). Das Compton Gamma Ray Observatory, abgekürzt CGRO, in seiner weit über die ursprüngliche Planung von fünf Jahren gehenden aktiven Zeit (1991-2000) führte nicht nur die erste Himmelsdurchmusterung bei über 100 Megaelektronenvolt durch, sondern lieferte auch umfangreiche Messdaten zu gut 2000 Messungen von Gammablitzen. Durch ihre gleichmäßige Verteilung am Himmel schloss man, dass die Gamma-Ereignisse nicht in der Milchstraße, sondern in weit entfernten Galaxien ausgelöst werden. Die Daten zeigten auch, dass Blazare (eine Unterklasse der Aktiven Galaktischen Kerne) eine der Hauptquellen für die Gammablitze sind, und dass es mit den kurzen und langen Blitzen zwei deutlich unterschiedliche Varianten gibt.

Seit 2002 schauen das Integral (International Gamma-Ray Astrophysics Laboratory) der ESA und seit 2008 das Fermi Gamma-Ray Space Telescope in den Gammahimmel. Letzteres war es auch, das 2017 einen kurzen Gammablitz aus der Kollision zweier Neutronensterne nachweisen konnte – dasselbe Ereignis, das sich auch über ein Gravitationswellensignal (von LIGO nachgewiesen) bemerkbar machte! Dies war damit die erste gleichzeitige Beobachtung eines elektromagnetischen und Gravitationswellensignals und gilt als Nachweis, dass Neutronensternverschmelzungen ein möglicher Auslöser der kurzen Blitze sein können (Abb.4).

Abb.4: Fermi- und LIGO-Daten zur Verschmelzung zweier Neutronensterne am 17.08.2017. Der Gammastrahlen-Ausbruch (GRB 170817A) traf Fermi zwei Sekunden nach dem Eintreffen der Gravitationswelle am LIGO-Detektor (GW170817). Credit: NASA GSFC & Caltech/MIT/LIGO Lab

Wem in den Sommerferien noch der Sinn nach Gammastrahlen und einer schönen Autotour steht, der könnte sich fix auf den Weg zur Farm Göllschau machen. Laut google-maps bräuchte man für die einfache Tour 162 Stunden (ohne Verkehr, wie das Programm fürsorglich anmerkt) und würde von Darmstadt aus knappe 12.000 Kilometer zurücklegen – steht das ‘High Energy Stereoscopic System’ H.E.S.S. (Abb.5) doch in einem für optische Beobachtungen hervorragend geeigneten Gebiet in Namibia.

Das System aus fünf Tscherenkov-Teleskopen nutzt die Tatsache, dass ein energiereiches Gammaphoton auf ein Atom der irdischen Atmosphäre treffen und mit diesem wechselwirken kann. Infolgedessen entsteht eine ganze ‘Lawine’ von Sekundärteilchen, die selbst wieder mit Bestandteilen der Atmosphäre reagieren. Aus einem einzelnen Gammaphoton entsteht so ein räumlich ausgedehnter Schauer von Teilchen, die nachgewiesen werden können (Abb.6) und aus deren Eigenschaften auf Richtung und Energie des Ursprungs-Gammas geschlossen werden kann.

Seit seiner Einweihung im Jahr 2004 konnte H.E.S.S. so erstmalig die Struktur einer Quelle kosmischer Gammastrahlung räumlich auflösen und hat mit der Entdeckung von acht neuen Hochenergie-Quellen die Anzahl der bekannten Quellen verdoppelt.

Abb.5: Das High Energy Stereoscopic System, abgekürzt H.E.S.S.
Credit: https://www.mpi-hd.mpg.de/hfm/HESS/pages/about/telescopes/
Abb.6: Vom Gammaphoton zur Tscherenkov-Strahlung am Teleskop
Credit: https://alto-gamma-ray-observatory.org/very-high-energy-gamma-ray-astronomy/

Um sich nun so richtig auf kosmische Phänomene einzustellen, könnte man sich vielleicht statt einer kurzen auch einfach mal eine lange Mittagspause gönnen und dazu vielleicht einen energiereichen chamäleonbunten großen Eisbecher wählen – alles natürlich für die Wissenschaft! In diesem Sinne einen strahlenden (Spät-)Sommer!