Ein gewaltiger, verschmelzender Galaxiencluster

Weekly Science Update – Übersetzt von Harald Horneff

(Originalartikel unter https://www.cfa.harvard.edu)

Die Kollision zweier Galaxiencluster bei mehreren Wellenlängen gesehen (Röntgenstrahlung niedriger Energie in blau, Röntgenstrahlung hoher Energie in rot und optisches Licht in gelb). Astronomen konnten die Röntgenspektroskopie nutzen, um die Rotverschiebungsentfernung zu einem zusammenstoßenden Cluster neu zu vermessen und fanden, daß er viel weiter entfernt ist als zuvor angenommen, ein Ergebnis, das mehrere Rätsel auflöst.
X-ray: Chandra: NASA / CXC / SAO / E. O’Sullivan, XMM: ESA / XMM / E. O’Sullivan
Optical: SDSS

Verschmelzungen von Galaxienclustern sind die extremsten Ereignisse im Universum, die man kennt, und setzen das Energieäquivalent von bis zu einer Million Galaxien, die für eine Million Jahre leuchten, frei. Schockwellen und Turbulenzen, die sich während dieser Verschmelzungen entwickeln, heizen das Gas zwischen den Clustern (das Intraclustermedium) und beschleunigen geladene Teilchen fast bis auf Lichtgeschwindigkeit. Während diese Teilchen sich entlang der Magnetfeldlinien um diese drehen, emittieren sie Strahlung, die Strukturen bei Radiowellen erzeugen, die als gewaltige Halos oder diffuse Bögen („Radiorelikte“ genannt) zu sehen sind. Verschmelzende Galaxiencluster und ihre Radiostrukturen sind demzufolge einzigartige Stätten, um Teilchenbeschleunigung unter extremen Bedingungen zu untersuchen.

Zur Klasse bekannter, großer, verschmelzender Galaxiencluster zählen solche mit doppelten Relikten zu einer seltenen Unterklasse, die gewöhnlich eine einfache Verschmelzungsgeometrie zeigen. ClG 0217+70 ist solch eine Clusterverschmelzung mit mehreren, auf jeden Fall aber vier Relikten, die nicht mit irgendeiner optischen Galaxie in Verbindung stehen, aber auf gewaltige Schockwellen verweisen. Das Problem besteht darin, daß dieser Cluster nicht sehr leuchtkräftig ist und man deshalb nicht erwartete, daß er eine derart leistungsstarke Strahlung besitzt. CfA-Astronom Ralph Kraft ist Mitglied in einem internationalen Team, daß die im Röntgenlicht gelegene Emissionslinie hochionisierter Eisenionen nutzte, um damit die Entfernung zu dem Cluster über seine Rotverschiebung neu zu messen. Sie berichten, daß die Entfernung zur Galaxie sogar ungefähr dreimal größer ist (etwa drei Milliarden Lichtjahre) als aus früheren Beobachtungen mit optischen Spektralmerkmalen abgeleitet. Dies läßt darauf schließen, daß die Abmessungen der Strukturen und ihre abgegebenen Energien alle erheblich größer sind als bislang vermutet; zum Beispiel ist einer der Radiobögen über zweitausend Lichtjahre lang. Tatsächlich bedeutet die neue Entfernungsmessung sogar, daß dieser Cluster einer der größten, je entdeckten Cluster ist, mit über einer Million Milliarde Sonnenmassen und krasse, durch Schockwellen verursachte, Dichteverwerfungen. Die Autoren spekulieren, daß die Verschmelzung womöglich das Ergebnis einer geringfügig achsenversetzten Kollision ist, bei der die Materie (einschließlich der Dunklen Materie) begonnen hat, zurückzufallen und eine neue Serie von Schockwellen erzeugt. Die diese Ergebnisse beschreibende Arbeit merkt an, daß die Fähigkeit, Röntgenspektroskopie zu nutzen, um Rotverschiebungen von Galaxien zu messen, eine leistungsfähige neue Technik ist, die für kommende Röntgenmissionen wachsende Bedeutung bekommen wird.

Literatur:

„ClG 0217+70: A Massive Merging Galaxy Cluster with a Large Radio Halo and Relics“

X. Zhang, A. Simionescu, J. S. Kaastra, H. Akamatsu, D. N. Hoang, C. Stuardi, R. J. van Weeren, L. Rudnick, R. P. Kraft, and S. Brown

Astronomy & Astrophysics 642, L3, 2020

oder

arXiv:2009.07580v1 [astro-ph.HE] 16 Sep 2020