Die Unsicherheiten bei der Messung der kosmischen Expansion

Weekly Science Update – Übersetzt von Harald Horneff

(Originalartikel unter https://www.cfa.harvard.edu)

Eine Aufnahme von entfernt liegenden Galaxien mit den Instrumenten VIMOS und WFI am Very Large Telescope der ESO. Zwei verschiedene Methoden zur Bestimmung der kosmischen Expansionsrate des Universums haben genaue, aber gegenseitig nicht vergleichbare Ergebnisse geliefert. Astronomen hatten gehofft, daß eine dritte Methode, die Gravitationswellen benutzt, genauer sein würde, aber eine neue Auswertung zeigt, daß deren Unsicherheiten in etwa so groß sind wie die der anderen Methoden.
ESO / Mario Nonino, Piero Rosati and the ESO GOODS Team

Neunzig Jahre, nachdem Edwin Hubble die systematischen Bewegungen von Galaxien entdeckte und George Lemaitre diese als aus einem Punkt kommende kosmische Expansion mit den Gleichungen der Einstein’schen Relativitätstheorie erklärte, steht die beobachtende Kosmologie von heute einer Herausforderung gegenüber. Die von den beiden wichtigsten Methoden abgeleiteten Werte – die Eigenschaften von Galaxien und die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung (CMBR) – unterscheiden sich um ungefähr zehn Prozent voneinander, obwohl jede für sich mit nur wenigen Prozent Abweichung genau ist. Nicht korrigierte Beobachtungsfehler sind möglich, aber Abschätzungen legen nahe, daß sie zu gering sind, um für die Unterschiede verantwortlich zu sein. Infolgedessen ist kein übereinstimmender und genauer Wert für die Ausdehnung – die Hubble-Konstante – gefunden worden. Das Problem ist nicht so sehr der Wert selbst – das Alter des Universums wird sich so oder so nicht viel ändern – vielmehr ist offensichtlich etwas nicht geklärtes im Gange, verbunden mit der Tatsache, daß die Daten der CMBR aus einer wesentlich anderen Ära der kosmischen Zeit als die Galaxiendaten stammen. Vielleicht ist eine neue Physik vonnöten.

Eine aufregend neue und unabhängige Methode, um die kosmischen Größen der Expansion zu messen, nutzt Gravitationswellen (GW). Die beobachtete Intensität der GW liefert eine Messung der Entfernung, da aus Modellen die intrinsische Stärke des Signals der GW abgeleitet werden kann. Wenn die GW auf eine Verschmelzung zweier Neutronensterne zurückzuführen sind, die ein entdecktes optisches Gegenstück besitzen, liefert die kosmische Fluchtgeschwindigkeit der Galaxie (gemessen aus ihrem Licht) eine Eichung für die Ausdehnungsrate. Diese neue Methode wird „Standardsirene“ genannt. Wenn die Genauigkeit der Standardsirenenmethode besser ist als die der anderen Methoden, würde der Widerspruch zwischen diesen Methoden zu lösen sein.

CfA-Astronom Hsin-Yu Chen hat die Unsicherheiten in Verbindung mit der Standardsirenenmethode untersucht und festgestellt, daß zwei Probleme diese Methode verkomplizieren und legt die größten Herausforderungen zur Lösung dieser Problematik dar. Beide Probleme sind mit dem abgestrahlten Licht und dem Blickwinkel auf die Quelle verbunden. Das erste Problem ist, daß das Licht nicht gemäß Computersimulationen kugelförmig abgestrahlt wird und daher die beobachtete Intensität von unserem Blickwinkel abhängt; sogar die Farbe ist winkelabhängig. Der Blickwinkel muß irgendwie geschätzt und in die Eichung mit einbezogen werden; dies birgt Unsicherheiten in sich. Das zweite Problem ist, daß auch das Verschmelzungsereignis aus einem bestimmten Winkel betrachtet wird, der das Ergebnis beeinflußt; sogar nach Beobachtung vieler Quellen wird eine statistische Auswertung der Probe einen Unsicherheitsfaktor beinhalten. Chen folgert, daß diese beiden systematischen Effekte eine Tendenz in den Standardsirenenwert der Hubble-Konstante einführen wird, die dazu führt, daß dem Wert eine Unsicherheit anhaftet, die ungefähr genau so groß ist wie die Unsicherheit in den anderen Methoden.

Literatur:

„Systematic Uncertainty of Standard Sirens from the Viewing Angle of Binary Neutron Star Inspirals“

Hsin-Yu Chen

Physical Review Letters 125, 201301 (2020)

oder

arXiv:2006.02779v2 [astro-ph.HE] 30 Sep 2020