Die jüngste große Kollision unserer Galaxis

Weekly Science Update – Übersetzt von Harald Horneff

(Originalartikel unter https://pweb.cfa.harvard.edu/news)

Ein Foto der Kleinen Magellanschen Wolke, einer nahen Zwerggalaxie, die mit der Milchstraße verschmilzt. (Der im Vordergrund stehende Kugelsternhaufen 47 Tucana ist rechts zu sehen.) Astronomen haben mit Hilfe der Gaia-Mission und der neuen H3-Durchmusterung von Sternen im Halo der Milchstraße gezeigt, daß die letzte große Vereinigung der Galaxis mit einem Zwergsystem namens Gaia-Sausage-Enceladus vor etwa 8-10 Milliarden Jahren stattfand; etwa die Hälfte der Sterne im galaktischen Halo stammen von diesem System ab.
Jose Mtanous

Eines der charakteristischen Merkmale der modernen Kosmologie ist die Beschreibung, wie sich Galaxien entwickeln: durch einen hierarchischen Prozess von Kollisionen und Verschmelzungen mit anderen Systemen. Nirgendwo im Universum können wir diesen Aufbau besser beobachten als in unserer eigenen Milchstraße. Gegenwärtig wird eine unserer nahen Nachbarn, die Zwerggalaxie Sagittarius, von den Gezeiten zerrissen (eine Zwerggalaxie hat weniger als ungefähr 1% der stellaren Masse einer normalen Spiralgalaxie wie der Milchstraße, oft sogar viel weniger). Zwei weitere nah gelegene Zwerggalaxien, die Große und die Kleine Magellansche Wolke (mit ungefähr 1% bzw. 0,7% der Sternenmasse der Milchstraße), fallen auf uns zu. Währenddessen umkreisen Mengen an Kugelsternhaufen die Galaxis und machen die Auswirkungen früherer Ver-schmelzungen offensichtlich. Die Geschichte noch älterer Verschmelzungen läßt sich aus den Positionen und Bewegungen der Sterne im stellaren Halo der Milchstraße ablesen, der ungefähr kugelförmigen Verteilung von Sternen (mit einem Durchmesser von etwa hunderttausend Lichtjahren), die älter als 10-12 Milliarden Jahre sind. Andromeda, unsere nächste große Nachbargalaxie, ist etwa zehnmal weiter entfernt als diese Zwerge; eine Verschmelzung mit ihr wird in weiteren fünf Milliarden Jahren erwartet.

Die Raumsonde Gaia wurde 2013 mit dem Ziel gestartet, eine präzise dreidimensionale Karte der Milchstraße durch Erfassung von 1% ihrer annähernd 100 Milliarden Sterne zu erstellen. Die CfA-Astronomen Rohan Naidu, Charlie Conroy, Ana Bonaca, Dennis Zaritsky, Rainer Weinberger, Nelson Caldwell, Sandro Tacchella, Jiwon Han sowie Phillip Cargile und ihr Team verwendeten die Gaia-Ergebnisse in Verbindung mit einer neuen Durchmusterung der äußeren Bereiche unserer Galaxis mit dem 6.5m MMT-Teleskop in Arizona (die „H3-Durchmusterung“), um die Geschichte der Milchstraßensterne in noch nie dagewesener Genauigkeit zu erstellen und um die Art der letzten Verschmelzung der Galaxis zu bestimmen. Es gab bereits aussagekräftige Hinweise dafür, daß eine einzelne Zwerggalaxie vor etwa 8-10 Milliarden Jahren mit der Milchstraße verschmolz. Was von diesem Objekt, das als Gaia-Sausage-Enceladus (GSE) bekannt ist, heute noch übrig ist, läßt sich anhand der Bewegungen und der Zusammensetzung der Sterne im inneren Halo ableiten. Es war jedoch unklar, ob GSE frontal mit unserer Galaxis kollidierte, oder ob GSE stattdessen die Galaxis umkreiste, bevor es nach und nach mit der Milchstraße verschmolz, und wenn letzteres zutrifft, wie sah diese Umlaufbahn aus.

Die Astronomen gingen diesen Fragen nach, indem sie die von Gaia gemessenen Halo-Sterne mit einer Reihe von numerischer Simulationen modellierten und mit dem Alter und der Zusammensetzung der Sterne verglichen. Die Simulationen zeigten, daß das Objekt GSE etwa eine halbe Milliarde Sterne enthielt und die Milchstraße nicht umkreiste, sondern sich ihr entgegengesetzt zu deren Rotationsbewegung näherte. Sie kommen auch zu dem Schluß, daß etwa 50% des derzeitigen stellaren Halos der Milchstraße und ungefähr 20% des Halos der Dunklen Materie von GSE abstammen. Die Milchstraße enthält Sterne, die etwa 13 Milliarden Jahre alt sind, obwohl diese möglicherweise von unserer Galaxis nach ihrer Entstehung eingefangen wurden. Mit der Fertigstellung dieser Studie kann jedoch fast das gesamte Wachstum der Milchstraße in den letzten zehn Milliarden Jahren erklärt werden.

Literatur:

„Reconstructing the Last Major Merger of the Milky Way with the H3 Survey”

Rohan P. Naidu, Charlie Conroy, Ana Bonaca, Dennis Zaritsky, Rainer Weinberger, Yuan-Sen Ting, Nelson Caldwell, Sandro Tacchella, Jiwon Jesse Han, Joshua S. Speagle, and Phillip A. Cargile

The Astrophysical Journal 923, 92, 2021

oder

arXiv:2103.03251v2 [astro-ph.GA] 17 Mar 2021