Die Bedeutung der Astronomie für den Menschen – von Harald Horneff

Blick in die Vergangenheit…

Schon die frühesten Kulturen identifizierten Himmelobjekte mit Göttern. Man denke nur an das alte Ägypten, in dem der oberste Reichsgott Ra bzw. Re mit der Sonne gleichgesetzt wurde. Bei den Sumerern hatten zum Beispiel die Mondgottheit Nanna und die Sonnengottheit Utu eine herausragende Stellung und im alten Rom finden Himmelsobjekte ihren Niederschlag im göttlichen Pantheon (Jupiter, Venus u.v.m.). Neben dieser theologischen Einbindung von Himmelskörpern in die geistige Welt, boten Sterne und Planeten auch einen handfesten Nutzen für die Menschen. Sie halfen beim Navigieren über das gleichförmig aussehende Meer oder bei der Entscheidung, wann die Saat auszubringen ist. So kündigte im Pharaonenreich der Aufgang des Sirius über dem Horizont die kommende Nilflut an.

Doch auch auf die Weltsicht hatte die Astronomie großen Einfluß. Der deutsch-polnische Domherr Nikolaus Kopernikus behauptete, dass die Erde nicht im Zentrum des Universums steht. Tycho’s Supernova von 1572 (Abb.1), benannt nach dem dänischen Adligen und Astronom Tycho Brahe, brachte das mittelalterliche Weltbild göttlicher, makelloser Sphären weiter ins Wanken. Beides brachte letztlich die damalige Weltsicht zum Einsturz und löste eine geistige Revolution aus, bei der sich am Ende Religion, Wissenschaft und Gesellschaft einem neuen Blick auf die Welt stellen mussten.

Abb.1: Blick auf Tycho’s Supernova-Überrest
Bildnachweis: MPIA / NASA

und Blick ins heute

Immer wieder erreichen uns aus der Astronomie Meldungen über schier unvorstellbare Rekorde (und man sollte auch nicht versuchen, es sich vorzustellen). Der von der Erde entfernteste Punkt im Universum liegt ungefähr 45 Milliarden Lichtjahre weit weg (genauer gesagt, handelt es sich um den Radius einer die Erde umgebenden Kugel). Durch die Gravitation zusammengehaltene Objekte erreichen Trilliarden Sonnenmassen, im Urknall herrschte eine Temperatur von 1032 Kelvin und Hypernovae setzen Energien frei, gegenüber der die gewaltigste, je von Menschen hervorgerufene Explosion (durch eine als Zar-Bombe bekannte Wasserstoffbombe) nur wie ein schwacher Windhauch wirkt.

Die Entdeckung, dass die Elemente (Abb.2), die wir in den Sternen und im Gas und Staub um sie herum finden, die gleichen Elemente sind, aus denen sich unser Körper aufbaut, hat die Verbindung zwischen uns und dem Kosmos weiter vertieft. Und heute überlegen wir, ob die Geometrie des Universums geschlossen, offen oder flach ist – mit ganz unterschiedlichen Folgen für die sehr ferne Zukunft. Entweder fällt es in sich zusammen, oder dehnt sich für immer (beschleunigt) aus oder seine Expansion geht in unendlicher Zeit (wörtlich gemeint) gegen null (Abb.3).

Abb.2: Periodensystem der Elemente und ihre Herkunft
Bildnachweis: https://de.wikipedia.org/wiki/Nukleosynthese beruht auf Daten von Jennifer Johnson von der Ohio State University

Das eben Genannte ist sicher interessant und lässt uns immer wieder staunen. Aber die Astronomie hat noch viel mehr zu bieten. An welchen Stellen sie in der heutigen Zeit direkt oder indirekt Einfluss auf unser Leben nimmt, und vieles davon ist den meisten Menschen wohl gar nicht bewusst, soll an einigen ausgewählten Beispielen dargelegt werden.

Astronomie in der Industrie

Charles H. Moore, ein amerikanischer Physiker, arbeitete am National Radio Astronomy Observatory (NRAO) auf dem Kitt Peak in Arizona. Er entwickelte zur Steuerung des 12 Meter messenden Radioteleskops und für dessen Empfänger die Computersprache FORTH. Dieses ursprünglich für ein Radioteleskop entwickelte Programm wird heute u.a. von dem Unternehmen FedEx weltweit zur Nachverfolgung seiner Sendungen genutzt. Eine weitere Programmiersprache – Interactive Data Language (IDL) – wurde für die Analyse und die Visualisierung von Daten in der Astronomie entwickelt. IDL wird heute nicht nur von der NASA und dem DLR genutzt. Zum Beispiel nutzt General Motors IDL, um Zahlenmaterial von Fahrzeugzusammenstößen auszuwerten. Und wer kennt es nicht, das Charge Coupled Device, besser bekannt als CCD. Für deren Entwicklung erhielten die Physiker Willard S. Boyle und George E. Smith im Jahr 2009 den Nobelpreis. CCD’s wurden erstmals 1976 in der Astronomie eingesetzt. CCD’s waren dort so erfolgreich, dass sie innerhalb weniger Jahre den Sprung vom Teleskop in die Taschenkameras und Webcams schafften und auch dort den Film ersetzten.

Abb.3: Geometrien des Universums
Bildnachweis: Teaching Advanced Physics

Astronomie in Luft- und Raumfahrt

Ein Großteil der von Astronomen entwickelten Teleskop- und Instrumententechnik, der Bildgewinnungs- und Bildbearbeitungsverfahren finden Eingang in die Luft- und Raumfahrt. Zwei Beispiele: Abwehrsatelliten sind im Grunde genommen erdwärts gerichtete Teleskope und erfordern die gleiche Technik und Gerätschaft, die in den astronomischen Gegenstücken verwendet wird. Darüber hinaus setzt man zur Bearbeitung von Satellitenbildern die gleiche Software und Methodik wie bei astronomischen Bildern ein. Geradezu kosmologisch wird die Verbindung von Astronomie mit Luft- und Raumfahrt beim Global Positioning System, dem GPS. Denn um auf der Erde genaue Standorte zu ermitteln, bedarf es Millionen Lichtjahre entfernter Quasare als „ruhende“ Bezugssysteme (und der für Astronomen ebenfalls nicht ganz unentbehrlichen Relativitätstheorie).

Astronomie und der Energiesektor

Dies mag im ersten Augenblick etwas verwundern, aber das australische Unternehmen Ingenero hat Solarzellen entwickelt, um die Sonnenenergie auf der Erde zu nutzen. Sie entwickelten Kollektoren mit 16 m Durchmesser, was nur mit Hilfe von Kohlenstoff-Verbundwerkstoffen möglich ist, die wiederum für ein weltraumgestütztes Teleskopfeld entwickelt wurden. Oder betrachten wir das europäische Röntgen-Weltraum-Teleskop XMM-Newton und dessen amerikanisches Gegenstück Chandra. Damit Röntgenstahlen durch solche Röntgenteleskope gesammelt und abgebildet werden können, muß man diese anders aufbauen (Abb.4) als Teleskope für sichtbares Licht. Technologien, die entwickelt wurden, um dies zu ermöglichen, werden nun eingesetzt, um Plasmafusionen im Röntgenlicht zu beobachten. Denn wenn die Fusion – bei der zwei leichte Atomkerne verschmelzen und einen schwereren Kern bilden – kontrolliert werden kann, könnte es die Lösung für sichere, saubere Energie sein.

Abb.4: Aufbau und Funktionsweise des High Resolution Mirror Assembly (HRMA) von Chandra
Bildnachweis: NASA / CXC / D. Berry

Astronomie in der Medizin

An dieser Schnittstelle zeigt sich die Bedeutung der Astronomie für uns Menschen ganz besonders deutlich. So bemühen sich Astronomen fortwährend, Objekte zu sehen, die immer lichtschwächer und entfernter gelegen sind. Die Medizin kämpft mit ähnlichen Problemen: sie will Dinge sehen, die im menschlichen Körper verborgen sind. Beide Wissenschaftsbereiche benötigen hochaufgelöste, fehlerfreie und detailreiche Bilder. Vielleicht das bekannteste Beispiel für Wissenstransfer zwischen diesen beiden Wissenschaften ist die Technik der Apertursynthese. Von Sir Martin Ryle entwickelt – er erhielt dafür 1974 den Nobelpreis – wird diese Technologie heute in der Computer-Tomographie (auch bekannt als CT), der Magnetresonanztomographie (MRT) und der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) eingesetzt.

Der Bau weltraumgestützter Teleskope erfordert eine extrem saubere Umgebung, um Staub oder Teilchen zu vermeiden, die später in den Teleskopen die Spiegel abdunkeln oder die Instrumente behindern. Das dafür entwickelte Instrumentarium – Schutzanzüge, Luftfilter, Reinraum-Protokolle – all dies hat seinen Weg in das moderne Krankenhaus und die pharmazeutischen Laboratorien gefunden.

Oder nehmen wir die adaptive Optik. Mit deren Hilfe beobachtet man astronomische Objekte durch die unruhige Atmosphäre. Mediziner haben erkannt, da sich dies nicht wesentlich von dem Versuch unterscheidet, durch das flüssigkeitsgefüllte, sich ständig bewegende Auge einer lebenden Person zu blicken. Und so wird die adaptive Optik heute zur Bildgebung der Netzhaut bei lebenden Patienten genutzt, um Krankheiten wie die Makuladegeneration (der allmähliche Funktionsverlust des „Gelben Flecks“) und Retinitis pigmentosa (Funktionsverlust der Netzhaut durch Zerstörung der Photorezeptoren) in ihren Frühphasen zu untersuchen.

Und wer denkt schon daran, daß kleine Wärmesensoren, ursprünglich für die Temperaturkontrolle von Teleskopen entwickelt, heute ihre Anwendung bei der Wärmekontrolle der Brutkästen von Frühgeborenen finden!

Übrigens: Heinrich Wilhelm Olbers, Entdecker der Asteroiden Pallas und Vesta, Entwickler von Methoden zur Bahnbestimmung von Himmelskörpern und Urheber des Olber’schen Paradoxons – dieser Heinrich Wilhelm Olbers war Arzt.

Astronomie im Alltag

Hier sei nur an eine Erfindung erinnert, die noch bis in die frühen neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts unbekannt und eine moderne Welt ohne diese Erfindung heute unvorstellbar ist. 1977 entwickelte der Australier John O’Sullivan in den Niederlanden am Radio-Observatorium von Dwingello eine Methode, um Bilder von Radioteleskopen zu schärfen. Darauf aufbauend entwickelte O’Sullivan mit Kollegen ein Verfahren, um Computernetzwerke zu stärken. Das Ergebnis dieser Arbeiten steht uns heute fast in jedem Haushalt als „drahtloses lokales Netzwerk“ oder WLAN = „wireless local area network“ zur Verfügung.

Astronomie und die internationale Zusammenarbeit

Auch auf diesem Sektor war und ist die Astronomie ein Vorreiter. Schon seit mindestens 1887 – als Astronomen der ganzen Welt ihre Teleskopaufnahmen zusammenführten und die erste Karte des gesamten Himmels erstellten – gibt es in der Astronomie eine internationale Zusammenarbeit und 1920 wurde mit der Internationalen Astronomischen Union die erste internationale wissenschaftliche Vereinigung gegründet. Heute kann ein einzelner Staat groß angelegte Forschungsvorhaben finanziell meist nicht mehr alleine stemmen. Und so führt und führte die Astronomie oft viele Staaten zusammen. (Bereits 1800 gab es die „Himmelspolizey“, eine internationale Kooperation zahlreicher europäischer Sternwarten auf der Suche nach einem noch unbeobachteten Planeten.)

Abb.5: ALMA
Bildnachweis: Clem & Adri Bacri-Normier (wingsforscience.com) / ESO

ALMA, das Atacama Large Millimeter/Submillimeter Array (Abb.5), ist das Ergebnis einer internationalen Partnerschaft von Europa, Nordamerika und Ostasien in Kooperation mit der Republik Chile. ALMA ist das größte existierende, astronomische Gemeinschaftsprojekt.

ESO, die Europäische Südsternwarte (Abb.6), wird von 16 europäischen Staaten (am 26.09.2018 trat Irland als derzeit letztes Mitglied bei) sowie Brasilien betrieben und ist in Chile beheimatet.

Abb.6: Die Europäische Südsternwarte auf dem Paranal in Chile
Bildnachweis: José Francisco Salgado / ESO

Selbst das berühmteste „amerikanische“ Teleskop, das Hubble-Weltraum-Teleskop (Abb.7), wird nicht nur von der NASA, sondern auch von der ESA, der European Space Agency, betrieben und finanziert.

Abb.7: Das Hubble-Weltraum-Teleskop
Bildnachweis: NASA, 1997

Und wenn wir schon beim Bezahlen hoher Kosten sind: der astronomischen Forschung wird immer mal wieder vorgehalten, sie verschlinge enorme Gelder ohne Nutzen für die Menschheit.

Die Astronomie und die Kosten

Wenn der Nutzen astronomischer Forschung alleine in der Verbindung zur Medizin oder als Wegbereiter zur Völkerverständigung nicht schon klar hervorgetreten ist, dann sollen hier ein paar Zahlen die Verhältnisse ein wenig zurechtrücken.

Das Projekt Europäische Südsternwarte mit seinen vier Großteleskopen kostete über mehrere Jahre Bauzeit rund eine Milliarde Euro. Viel? Für die meisten Menschen sicherlich. Der amerikanische Verteidigungshaushalt für das Jahr 2018 beläuft sich dagegen auf läppische 716 Milliarden Dollar. Ganz grob gerechnet, kann man alleine mit dem amerikanischen Verteidigungshaushalt des Jahres 2018 rund 700 Südsternwarten bauen.

Hubble, die Ikone der abbildenden Astronomie, hat seit seinem Start 1990 mit allen Reparaturen rund 5.6 Milliarden Euro gekostet (davon trägt die ESA 15%, also ungefähr 840 Millionen Euro). Ob die Gesamtkosten oder ESA alleine, im Vergleich zum deutschen Verteidigungsetat des Jahres 2018 in Höhe von 45,9 Milliarden Euro auch äußerst bescheiden.

Wie man sieht, Astronomie ist nicht gerade das teuerste Hobby, das sich die Menschheit gönnt.

Ausblick

Doch schon 1933 bestand die Notwendigkeit, die Astronomie zu rechtfertigen. In der Schrift The Use of Astronomy faßte Robert Aitken, der damalige Direktor des Lick-Observatoriums, seine Gedanken wie folgt zusammen: Der Menschheit immer mehr Wissen über das Universum zu geben und ihr zu helfen, ‚Demut zu lernen und sich begeistern zu können‘, das ist die Aufgabe der Astronomie.

Ahmed Zewail, Nobelpreisträger für Chemie (1999), sagte später: Das Bewahren von Wissen ist einfach. Auch das Weitergeben von Wissen ist einfach. Doch das Erlangen von neuem Wissen ist kurzfristig betrachtet weder einfach noch gewinnbringend. Grundlagenforschung erweist sich erst auf lange Sicht als ertragreich, und, genauso wichtig, sie ist eine Kraft, die die Kultur jeder Gesellschaft mit Vernunft und grundlegenden Wahrheiten bereichert.

All dies verdeutlicht hoffentlich, wie wichtig und wegweisend die Astronomie bis heute gewesen ist. Neben vielen phantastischen Bildern, sicherlich im ersten Augenblick das Anziehendste an der Astronomie, bringt sie uns Fortschritte, die wir gar nicht mit ihr in Verbindung bringen.

Ganz am Schluß soll der Astronom Carl Sagan zu Wort kommen. In seinem Buch „The Pale Blue Dot“, schreibt er einen Satz, der Bezug auf eine Aufnahme der Erde aus ungefähr 6.44 Milliarden Kilometern Entfernung durch die Voyager-Sonde nimmt (Abb.8):

Es gibt vielleicht keinen besseren Beweis für den Aberwitz menschlicher Einbildung als dieses Bild unserer winzigen Welt aus großer Entfernung. Was mich betrifft, unterstreicht es unsere Verantwortung, viel gütiger miteinander umzugehen und den blaßblauen Punkt, die einzige Heimat, die wir überhaupt kennen, zu bewahren und zu pflegen.

Dieser Satz ist für die Volkssternwarte Darmstadt Ansporn, sich nicht nur mit dieser faszinierenden Wissenschaft zu beschäftigen, sondern sie den Menschen mit ihren bescheidenen Mitteln näher zu bringen.

Abb.8: Die Erde, aufgenommen von der Raumsonde Voyager I
Bildnachweis: NASA / JPL

Autor: Harald Horneff