Astronomie ohne Teleskop – Neue Physik?

Von Steve Nerlich in Universe Today – Übersetzt von Harald Horneff

Die Sonne kann viele Dinge auf der Erde beeinflußen – aber die Rate des radioaktiven Zerfalls ist eigentlich etwas, das man damit nicht in Verbindung bringt. Quelle: NASA

 

Radioaktiver Zerfall – ein Zufallsereignis, richtig? Gut, aber nach Meinung einiger – vielleicht nicht. Über mehrere Jahre hat eine Gruppe Physiker aus Purdue und Stanford die Isotopenzerfallsdaten verschiedener Isotope und Detektoren überprüft – sehen ein nicht zufälliges Muster und suchen nach einem Grund. Und nachdem man nun glaubt, alle möglichen Ursachen ausgeschlossen zu haben – ist die Gruppe soweit, zu erklären: die Ursache ist… außerirdisch.

Gut, es wird zwar vermutet, daß es nur an der Sonne liegt – aber ein starker Befund, oder? Na ja… vielleicht ist es das Beste, erst einmal die kritische Brille aufzusetzen, bevor man die Behauptung liest, es sei eine neue Physik entdeckt worden.

Nun wird also behauptet, in den vermeintlich unterschiedlichen radioaktiven Zerfallsraten findet sich eine gewisse Periodizität. Eine bestimmte jährliche Periodizität deutet auf eine Verbindung mit dem sich ändernden Abstand der Erde von der Sonne hin, da die Erdumlaufbahn elliptisch ist – zudem sollen sich weitere überlagerte Muster finden, die man mit der Produktion von großen solaren Flares und dem 11-jährigen (oder22-jährigen, wem das lieber ist) Sonnenzyklus verknüpfen kann.

Die behaupteten Änderungen in den Zerfallsraten sind allerdings verhältnismäßig klein und so gibt es viel Kritik in der unten aufgeführten Gegendarstellung zu dieser doch sehr radikalen Idee. Bevor wir hier irgendwelche Schlußfolgerungen ziehen, müssen wir zuerst noch einmal festhalten, was gutes wissenschaftliches Arbeiten ausmacht:

Wiederholbarkeit – ein anderes Labor oder Observatorium kann die gleichen Daten sammeln wie die, die man behauptest, selbst gesammelt zu haben

Ein Signal, stärker als das Hintergrundrauschen – innerhalb des Datensatzes zeigt sich ein Verlauf, der einen statistisch bedeutsamen Unterschied zum zufälligen Hintergrundrauschen innerhalb dieses Datensatzes aufweist

Ein vernünftiger Mechanismus – wenn zum Beispiel die Rate des radioaktiven Zerfalls mit der Position und der magnetischen Aktivität der Sonne zusammenzuhängen scheint – warum ist dies so?

Eine überprüfbare Hypothese – der glaubhafte Mechanismus, den man vermutet, sollte die Vorhersage erlauben, wann oder unter welchen Umständen der Effekt erwartet oder wieder auftreten kann.

Die Befürworter der Hypothese eines veränderlichen radioaktiven Zerfalls berufen sich auf zahlreiche Datensätze, um das Wiederholbarkeits-Kriterium zu belegen, aber andere Arbeitsgruppen berufen sich auch auf Datenquellen, die nicht mit einer Hypothese eines veränderlichen radioaktiven Zerfalls in Übereinstimmung stehen. Zum Wiederholbarkeits-Kriterium gibt es also Fragezeichen – zumindest bis so viele Daten vorliegen, um jede begründete Gegendarstellung auszuschließen.

Ob ein Signal existiert, das stärker als das Hintergrundrauschen ist, bildet wahrscheinlich den Kernpunkt dieser Debatte. Bei den vermuteten periodischen Änderungen im radioaktiven Zerfall handelt es sich um verhältnismäßig kleine Änderungen und es ist nicht sicher, ob ein zweifelsfreies, deutliches Signal nachgewiesen worden ist.

Eine zweite Veröffentlichung beschreibt den von der Gruppe vermuteten Mechanismus – und auch dieser ist nicht unmittelbar zwingend. Man bezieht sich auf Neutrinos, die natürlich durch die Sonne im Überfluß erzeugt werden, aber in Wirklichkeit vermutet man eine hypothetische Form, die von den Befürwortern „Neutrellos“ genannt werden, die notwendigerweise viel stärker mit Atomkernen wechselwirken als Neutrinos. Dies verursacht einen Zirkelschluß – da wir denken, daß es einen Effekt gibt, der bis heute der Wissenschaft unbekannt ist, vermuten wir, daß er von einem Teilchen verursacht wird, das ebenfalls bis heute der Wissenschaft unbekannt ist.

Im Zusammenhang mit dem vermeintlichen Auffinden einer periodischen Änderung des radioaktiven Zerfalls müssen die Verfechter dieser Hypothese eine Vorhersage machen. Es sollte sich irgendwann im nächsten Jahr, zum Beispiel auf einem speziellen Breitengrad in der nördlichen Hemisphäre, der radioaktive Zerfall eines Isotops X um einen meßbaren Betrag Z im Vergleich zu einer entsprechend durchgeführten Messung, sagen wir sechs Monate später, ändern. Und vielleicht könnte man zudem noch ein paar Neutrellos einfangen.

Wenn dies alles gelingt, dann könnten die Befürworter dieser These schon mal einen Flug nach Schweden reservieren lassen. Aber es ist zu vermuten, daß es dann doch nicht so einfach wird.

Weiterführende Literatur (im Internet zu finden unter):

Argumente dafür:

arXiv:1106.1678v1

Jere H. Jenkins, Ephraim Fischbach, Peter A. Sturrock, Daniel W. Mundy

Analysis of Experiments Exhibiting Time-Varying Nuclear Decay Rates: Systematic Effects or New Physics? (2011)  (die Daten)

arXiv:1106.1470v1

Ephraim Fischbach, Jere H. Jenkins, Peter A. Sturrock

Evidence for Time-Varying Nuclear Decay Rates: Experimental Results and Their Implications for New Physics (2011) (der Mechanismus)

Argumente dagegen:
arXiv:0810.3265v1

Eric B. Norman, Edgardo Browne, Howard A. Shugart, Tenzing H. Joshi, Richard B. Firestone

Evidence against correlations between nuclear decay rates and Earth–Sun distance (2011)