Kugelige Klassenzimmer – von bekannten Mitschülern und blauen Unbekannten

Dr. Ilka Petermann, Argelander-Institut Bonn

Die Sterne eines Kugelsternhaufens sind im Grunde genommen alle Klassenkameraden. Bei der Entstehung der dichten Sternansammlungen aus einer homogenen Molekülwolke gab es nur eine einzige Sternbildungsphase. Damit haben alle Mitglieder, ganz gleich ob leicht oder schwer, groß oder klein, dasselbe Alter. Der Klassenverband besteht mehr oder weniger unverändert seit Milliarden von Jahren und letztlich sollte man das Entwicklungsstadium aller Mitschüler kennen. Aber eine Handvoll ‚blauer Nachzügler‘ fällt aus dem Rahmen: sie erscheinen erheblich jünger und heller. Welches ‚Anti-Aging-Rezept‘ diese Sterne haben, ist seit ihrer Entdeckung vor gut 60 Jahren Gegenstand der Forschung.
Kugelsternhaufen sind extrem dicht gepackte Ansammlungen von bis zu 100000 Sternen, die gravitativ gebunden sind. Wechselwirkungen, zumeist in Form von Bahnveränderungen, tragen maßgeblich zu ihrer kugelförmigen Erscheinung bei. Ein Kugelsternhaufenzentrumsplanetenbewohner hätte nicht nur mit dieser „eleganten“ Bezeichnung zu kämpfen, sondern müsste sich vermutlich auch auf einen sehr hellen Himmel einstellen: Während im Abschnitt der Milchstrasse, in dem sich auch unsere Sonne be-findet, weniger als ein Stern pro Kubikparsec zu finden ist, können es im Zentrum von Kugelstern-haufen bis zu tausend Sterne in einem Kubikparsec sein.
Kugelsternhaufen sind gravitativ an Galaxien gebunden und bewegen sich in deren Halo, einem ausgedehnten, annähernd sphärischen Bereich um die sichtbare Galaxie herum. Im Milchstraßenhalo sind heute 150 Kugelsternhaufen bekannt, Schätzungen gehen von bis zu 50 weiteren aus, die allerdings hinter Staub und dichtem Gas verborgen sind.
M13
Abb. 1: Kugelsternhaufen M13, auch Herkuleshaufen genannt, Robert Collins
Die meisten Kugelsternhaufen sind von der südlichen Hemisphäre aus zu beobachten, der hellste Kugelsternhaufen am Nordhimmel ist M13, der ‚Herkuleshaufen‘ (Abb. 1). Das gut 25000 Lichtjahre entfernte ‚Nebelscheibchen‘, das unter sehr guten Bedingungen freiäugig ausgemacht werden kann, ist nicht nur ein beliebtes Beobachtungsobjekt, sondern war auch Ziel der ‚Arecibo-Botschaft‘ von 1974. Das Radiosignal sollte möglichen außerirdischen ‚Nachbarn‘ in sieben binär codierten Absätzen von Zahlen, chemischen Elementen, Nukleotiden, DNA-Struktur, Menschheit, Erde und Absender erzählen. Eine Antwort steht noch aus…
Ein weiteres Charakteristikum von Kugelsternhaufen ist ihr hohes Alter – auf bis zu dreizehn Milliarden Jahre bringen es die ältesten und sind damit in kosmischen Maßstäben nur wenig jünger als das Universum selbst. Die stürmischen Zeiten der Sternentstehung haben sie schon lange hinter sich gebracht – ausgedehnte, leuchtende Gasmassen, ein Zeichen für aktive Sternentwicklung, lassen sich nicht mehr finden. Stattdessen prägen alte, zumeist rötliche Sterne die Erscheinung.
Um mehr über kosmische Objekte lernen zu können, muss man ihre Bestandteile in bestimmter Art und Weise sortieren.
Trägt man für eine große Anzahl von Sternen die Helligkeit gegen ihre Oberflächentemperatur (oder Farbe) auf, so ergeben sich bestimmte Gebiete, die deutlich stärker bevölkert sind als andere. Auffällig-stes Merkmal dieser auch ‚Hertzsprung-Russell-Diagramm‘ genannten Darstellung (Abb. 2a) ist ein diagonales Band, das sich von sehr hellen, sehr heißen Sternen zu leuchtschwachen, kühleren Sternen hinzieht. Auf dieser ‚Hauptreihe‘ (engl. main sequence) halten sich Sterne den weitaus längsten Teil ihres Lebens auf, daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sie in diesem Lebensabschnitt beobachtet, am größten.
HR-Diagramm2
Abb. 2a
: Das Hertzsprung-Russell-Diagramm für den offenen Sternhaufen NGC 188 im Sternbild Kepheus. Er ist mit über fünf Milliarden Jahren einer der ältesten offenen Sternhaufen in der Milchstraße. Der Sternhaufen besteht aus etwa 5000 Sternen. Bildnachweis siehe Textende
Sterne leuchten umso heller, je massereicher sie sind. Was ein Stern an Energie abstrahlt, muss aber im Inneren laufend durch Brennprozesse nachgeliefert werden, damit der Stern im Gleichgewicht bleibt. Massereichere leuchtkräftigere Sterne mit ihrem großen Brennstoffhunger haben also eine kürzere Lebensdauer als masseärmere und leuchtschwächere Sterne. Betrachtet man das Hertzsprung-Russell-Diagramm von Kugelsternhaufen fällt auf, dass die Hauptreihe verkürzt ist: die leuchtstarken Sterne haben diesen Teil ihrer Entwicklung bereits beendet und sind nach rechts auf den ‚Riesenast‘ gewandert. Auf diesem Ast tummeln sich aufgeblähte Sterne, die man ihrer Farbe und gewaltigen Größe wegen Rote Riesen (eng. Red Giants) nennt. Aus Modellrechnungen kann man Voraussagen treffen, wie lange Sterne mit bestimmter Masse auf der Hauptreihe bleiben und aus dem Abbruch auf der Hauptreihe das Alter des Kugelsternhaufens erschließen.
Viel Raum für Unbekanntes scheint es da eigentlich nicht zu geben, wäre da nicht eine Handvoll Sterne, die nicht ins Raster passen und für große Verwunderung bei den Astronomen gesorgt haben: die Blauen Nachzügler (engl. Blue Stragglers).
Blaue Nachzügler sind Sterne, die für ihren Sternhaufen eigentlich viel zu jung erscheinen. Sie liegen im Hertzsprung-Russell-Diagramm jenseits des Hauptreihen-Abbruchs (‚Turn-off‘) und sind sowohl leuchtkräftiger als auch erheblich heißer (das entspricht einem bläulich-weißen Farbton) als man in einem Kugelsternhaufen vermuten könnte (Abb. 2b).  Die meisten von ihnen sind im dichten Zentrum und den äußersten Randgebieten des Haufens zu finden. Nachträglich in die ‚Klasse‘ hinzukommen konnten die Nachzügler nicht – wie also konnten sie überhaupt entstehen und welchen Entwicklungsweg haben sie genommen? Und warum gibt es nur so wenige von ihnen?
HR-Diagramm
Abb. 2b
: Das Hertzsprung-Russell-Diagramm für den offenen Sternhaufen NGC 188, jetzt mit denen nach dem Abknickpunkt dargestellten „Blauen Nachzüglern“. Bildnachweis siehe Textende
Blaue Nachzügler wurden erstmals von Allan Sandage im Jahr 1953 während photometrischer Messungen des Kugelsternhaufens M3 beschrieben. Seitdem ist in immer neuen Beobachtungen eine große Anzahl neuer Nachzügler in unterschiedlichen Sternhaufen dazugekommen. Mit dem Hubble Teleskop wurden zum Beispiel in den Kugelsternhaufen 47 Tucanae (NGC 104, Abb. 3), Messier 30 und dem offenen Sternhaufen M67 einige Nachzügler entdeckt. Vor kurzem konnten sogar im Bulge der Milchstraße, dem dichten, ‚bauchigen‘ Zentralbereich unserer Heimatgalaxie, einige blaue Nachzügler beschrieben werden.
Globular Star Cluster 47 Tuc
Abb. 3: Der nur von der Südhalbkugel zu sehende Kugelsternhaufen 47 Tucanae liegt direkt neben der Kleinen Magellanschen Wolke und besitzt innerhalb von ca. 120 Lichtjahren Durchmesser mehrere Millionen Sterne.  Dieter Willasch (Astro-Cabinet)
Verschiedene Theorien wurden zu ihrer Entstehungsgeschichte vorgeschlagen. Da die Zahl an Blauen Nachzüglern im dichten Zentrum von Kugelsternhaufen hoch ist, könnten Kollisionen von Sternen für sie verantwortlich sein (Abb. 4). Mit geringen Relativgeschwindigkeiten könnte solch ein Zusammentreffen glimpflich ablaufen und es würde nicht zu einer vollständigen Durchmischung der beiden Sterne kommen. Da Blaue Nachzügler in ihrem Spektrum keinerlei Anzeichen für solch eine Mischung zeigen, liefert das Szenario des „Zusammentreffens bei geringen Relativgeschwindigkeiten“ einen Mosaikstein zu ihrer Entstehungsgeschichte. Aussagekräftige Modelle müssen auch Schätzungen für die Häufigkeit von Kollisionen liefern – hierfür braucht es aber auch wieder den Abgleich mit weiteren Beobachtungen.
Ein anderer Ansatz sieht Doppelsternsysteme als Ausgangspunkt für Blaue Nachzügler. Haben die beiden Partner unterschiedliche Massen, entwickelt sich der Schwerere auf einer kürzeren Zeitskala. Nach dem Verlassen der Hauptreihe, bläht sich der Stern als Roter Riese gewaltig auf und kann, in engen Sternsystemen, Masse auf seinen Begleiter übertragen (Abb. 4).  Diese großzügige Spende wirkt wie eine Verjüngungskur: der Begleitstern hat mehr Brennstoff zur Verfügung als seinem Alter entsprechen würde – er erscheint heller und bläulicher. Der Spenderstern selbst würde als kompakter alter Stern, als ein sogenannter Weißer Zwerg,  um den verjüngten Begleiter kreisen. Ein derartiges System konnte mit dem Weltraumteleskop Kepler tatsächlich gefunden werden. Damit liefert dieser Entstehungsweg eine mögliche Erklärung für den Teil aller Blauen Nachzügler, die als Pärchen im Sternhaufen leben.
sterne
Abb. 4
: Die beiden möglichen Szenarien, die zur Bildung eines Blauen Nachzüglers führen könnten. Bildnachweis siehe Textende
Gibt man bei Google den Suchbegriff ‚Anti Aging‘ ein, werden knapp 80 Millionen Ergebnisse angezeigt – von harmlos bis haarsträubend ist alles dabei. Während die irdischen Verjüngungskuren also wohl noch etwas auf sich warten lassen –  bei den kosmischen Ansätzen sind die Astronomen zumindest schon auf der richtigen Spur.
 
Abbildung 2a und 2b aus:
Stars aquire youth through duplicity
Christopher Tout
Nature Volume:
478, Pages:
331–332, Date published:
(20 October 2011)DOI:      doi: 10.1038/478331a
 
Modifizierte Darstellung aus Stetson, P. B., McClure, R. D. & VandenBerg, D. A.
Publ. Astron. Soc. Pacif. 116, 1012–1030 (2004)
 
Abbildung 4 aus:
Stellar revival in old clusters
M.B. Davies
Nature 462, 991-992 (December 2009)         doi: 10.1038/462991a
 
Literatur:
arXiv:1105.4176v1 [astro-ph.GA]
William I. Clarkson, Kailash C. Sahu, Jay Anderson, R. Michael Rich, T. Ed Smith, Thomas M. Brown, Howard E. Bond, Mario Livio, Dante Minniti, Alvio Renzini, Manuela Zoccali
“The first detection of Blue Stragglers in the Milky Way Bulge”
oder
The Astrophysical Journal, Volume 735, Issue 1, article id. 37, 10 pp. (2011)