Dr. Ilka Petermann
Ganz schön sportlich, wie man da so auf dem bequemen Sofa sitzt und ganz begeistert den Athleten der Olympischen Spiele und Paralympics zuschaut. Denn schließlich bewegt man sich ja mit 107.000 Kilometern pro Stunde auf einer fast kreisrunden Rennstrecke um eine ewige Flamme! Zugegeben: allzu viel müssen wir dafür nicht tun und es braucht schon einen gelegentlichen Blick in den Nachthimmel um zu sehen, wie es ‘rund’ geht.
Bei unserem irdischen Sprint handelt es sich natürlich um die Bewegung der Erde um die Sonne – wofür wir ganz genau ein Jahr benötigen. Erkennbar wird das neben der zusätzlichen Kerze auf dem Geburtstagskuchen und der Getränkewahl (heiß oder mit Eis) insbesondere beim Blick in den Nachthimmel. Denn auf ihrem Weg um die Sonne neigt sich die Erde immer wieder einem anderen Ausschnitt des Firmaments zu. Im Frühjahr etwa steht das Sternbild Löwe hoch am Himmel, während im Sommer die drei besonders hellen Sterne Deneb (Sternbild Schwan), Wega (Leier) und Altair (Adler) den Asterismus des ‘Sommerdreiecks’ bilden (Abb. 1). Im Herbst reitet dann der geflügelte Pegasus an den Nachthimmel, der zusammen mit dem Stern Sirrah der Andromeda die markante Konstellation des ‘Herbstvierecks’ bildet. Und so dunkel der Winter mit seinem kurzen Tagen auch ist – der winterliche Nachthimmel bringt etwa mit dem hellem Fuhrmann, dem Großen und Kleinen Hund oder dem Stier ein wenig Glanz in die kalten Nächte (Abb. 1). Und dann knallen Korken und Böller – und mit dem Frühjahr geht es wieder von vorne los.
Abb.1: Im Sommer ein Dreieck wie eine Eistüte, im Winter ein helles Sechseck, damit man auch bei Nacht die Keksdose gut findet: Der Nachthimmel der Nordhalbkugel im Sommer (links) und im Winter (rechts) mit den Asterismen ‚Sommer-dreieck‘ und ‚Wintersechseck‘, Türkis eingezeichnet. Quelle: MDR/Stellarium
Doch zurück zur Sonne: auch sie steht im Universum nicht still: unser Zentralgestirn (mit dem gesamten Sonnensystem im Schlepptau) bewegt sich um das galaktische Zentrum (von der Erde aus gesehen im Sternbild Schütze) und bringt es dabei auf sagenhafte 828.000 km/h (230 km/s – Luftlinie von Darmstadt an den Bodensee in einer Sekunde, ohne Ver-spätung oder Umleitung!). Für eine komplette Umrundung braucht sie so 230 Millionen Erdjahre (ein ‘Galaktisches Jahr’) – was sie seit ihrer Entstehung vor rund 4,6 Milliarden Jahren damit schon zwanzig Mal gemeistert hat. Durch die ungleich-mäßige Verteilung von Masse (Sterne, Gas, Staub,…) taumelt die Sonnenbahn dabei durch die galaktische Scheibe und befindet sich damit in mal mehr und mal weniger dichten Bereichen unserer Milchstraße. Manche Theorien gehen davon aus, dass durch eine erhöhte Dichte Impaktereignisse auf der Erde zu den verschiedenen bekannten Ereignissen eines Massenaussterbens geführt haben – bewiesen werden konnte das bisher jedoch nicht.
Dass uns bei den kosmischen Sprints nicht die Haare zerzausen, liegt nun einerseits daran, dass sich ‘alles’, von Atmo-sphäre bis Erdboden, mit uns bewegt (wie in einem Flugzeug auf Flughöhe sitzen wir gemütlich auf der Terrasse oder im Garten und lassen uns den Tomatensaft schmecken), aber auch daran, dass sich Sonne und Erde so schön konstant be-wegen. Zwar gilt auch die Richtungsänderung auf einer Kreisbahn als ‘Beschleunigung’ – doch sind die Erd- und Sonnen-bahnen so groß, dass wir uns nicht wie in einem Karussell fühlen. Würde die Erde dagegen plötzlich abbremsen – nicht nur unser Saft, auch die Flüsse und Ozeane würden aus Bett oder Becken schwappen…
Doch darum müssen wir uns keine Sorgen machen und auf den Sternenhimmel ist ebenso Verlass: Denn auch wenn die Konstellationen im Wandel der Jahreszeiten ihre Position am Himmel verändern – die relativen Abstände (und damit die Sternbilder selbst) bleiben stets gleich. Nehmen wir noch hinzu, dass die Sterne stets gleich hell strahlen (von ein paar wundersamen veränderlichen Sternen, wie etwa Mira, mal abgesehen…) – schon haben wir unseren ‘Fixsternhimmel’, der so schön ‘fix’, unabänderlich und absolut gleich bleibt.
Eigentlich. Denn immer mal wieder gab und gibt es Phänomene, welche die himmlische Ruh ein wenig aufmischen: Kometen (böses Omen oder beeindruckendes Schauspiel…), Sternschnuppen (Wunsch frei) oder ganz selten auch mal ein ‘neuer Stern’, der aufblitzt und wieder vergeht, wie etwa Tycho Brahe’s Nova aus dem Jahr 1572.
Und dann gibt es auch noch Sterne, die mit ‘fix’ nur wenig anfangen können und die es wirklich eilig haben – wie etwa ‘Barnards Pfeilstern’ (Abb. 3). Der Rote Zwergstern, mit einer Entfernung von kaum 6 Lichtjahren der dem Sonnensystem viertnächste Stern, zeigt eine deutliche sogenannte ‘Eigenbewegung’ (Abb. 2), er verändert also seine Position am Him-mel! Pro Jahr sind es immerhin 10,4 Bogensekunden, womit er in einem langen Menschenleben (rund 90 Jahren) eine dem halben Monddurchmesser entsprechende Distanz zurücklegt! Entdeckt wurde der schnelle Stern vom US-amerikani-schen Astronomen Edward Emerson Barnard, der seine Entdeckung im Jahr 1916 unter dem Titel ‘Ein kleiner Stern mit einer großen Eigenbewegung’ (‘A small star with large proper motion’) publizierte*. Astronomen konnten bestimmen, dass die relative Geschwindigkeit von Barnards Pfeilstern zum Sonnensystem damit rund 143 km/s beträgt.
Abb.2: Ein kosmisches Objekt kann sich auf uns (hier: die Sonne) zu- oder von uns fortbewegen – was sich etwa über den Dopplereffekt bestimmten lässt. Doch es kann auch eine Geschwindigkeitskomponente quer zur Sichtlinie haben: die Tangentialgeschwindigkeit. Ist letztere groß genug (und das Objekt nicht ‘allzu weit’ entfernt) bewegt es sich über den Himmel. Wenn das alle Sterne täten – ein Gewusel wie auf dem Jahrmarkt und mit Sternbildern wäre es nicht weit her… Quelle: Wikipedia
Abb.3: Jetzt sitz’ doch bitte einfach mal still! Der wohlerzogene Schnellläuferstern ‘Barnards Pfeilstern’, zielsicher durch einen Pfeil gekennzeichnet, auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2006. Quelle: Wikipedia
Und der auch in der Astronomie so genannte ‘Schnellläufer’ ist nicht ganz alleine: ‘Kapteyns Stern’ etwa, ein sonnennaher roter Unterzwerg, war zum Zeitpunkt seiner Entdeckung (1897) der Stern mit der größten bekannten Eigenbewegung. Bei der Auswertung von Fotoplatten fiel dem niederländischen Astronomen auf, dass der Stern C.Z.V243, der noch 1873 klar auf einer Fotografie zu erkennen war, wenig später verschwunden zu sein schien. Dafür entdeckten die Astronomen jedoch in der Umgebung einen bis dahin nicht katalogisierten Stern – der sich als der verloren geglaubte Himmelskörper herausstellte, der offensichtlich mit rund 8 Bogensekunden pro Jahr über den Himmel zog und fortan als ‘Kapteyns Stern’ bekannt wurde.
Ähnlich flott unterwegs sind auch noch der gelblich-weiße Unterzwerg ‘Argelanders Stern’ oder ‘Teegardens Stern’. Letzte-rer ist benannt nach dem Astronomen Bonnard Teegarden, dem Leiter des Teams, das in Daten des NEAT-Programms (Near Earth Asteroid Tracking) eigentlich nach potentiell gefährlichen, erdnahen Asteroiden suchte, als ihnen der Rote Unterzwerg mit 5 Bogensekunden pro Jahr durch die Aufnahmen stolperte.
Doch bei aller Eile: die Schnellläufer machen zwar ordentlich Strecke, bleiben ‘uns’ bzw. der Milchstraße allerdings auch in ferner Zukunft weiter verbunden. Ganz anders die ‘Irgendeiner-muss-ja-immer-noch-einen-draufsetzen-Sterne’, besser bekannt als ‘Hyperschnellläufersterne’ (Abb. 4). Mit Geschwindigkeiten zwischen 300 und 1.000 km/s bewegen sich einige sogar schnell genug, dass sie das gravitative Feld der Milchstraße verlassen können (die Fluchtgeschwindigkeit der Milch-straße beträgt rund 530 km/s; etwas ‘bekannter’ ist die Fluchtgeschwindigkeit der Erde, jener Geschwindigkeit, die etwa eine Rakete haben muss, um die Anziehungskraft der Erde zu überwinden: 11,2 km/s). Hyperschnellläufer sind oft bläulich-weiße Hauptreihensterne (Spektraltyp B) mit 3 bis 8 Sonnenmassen und Oberflächentemperaturen um 12.000 Kelvin.
Abb.4: Bewegungsbahnen von 20 (Hyper)Schnellläufersternen, rekonstruiert nach Daten von Gaia; im Hintergrund eine künstlerische Darstellung der Milchstraße. Sterne auf den gelben Bahnen bewegen sich in Richtung der Milchstraße, Sterne auf den roten Bahnen sind schnell genug, um unsere Heimatgalaxie verlassen zu können – Reisende kann man nicht aufhalten… Quelle: ESA/Marchetti et al. 2018/NASA/ESA/Hubble
Und da treffen wir auch unseren ‘Goldstern’ wieder: S5-HVS1, der mit einer phänomenalen Geschwindigkeit von 1.755 km/s den bestätigten Rekord bei den Hyperschnellläufersternen hält!
Woher die Sterne ihre extrem hohen Bewegungsenergien nehmen, ist noch nicht vollständig geklärt. Möglich wäre, dass bei der Begegnung eines Doppelsternsystems mit dem zentralen Schwarzen Loch der Milchstraße das Sternsystem aus-einandergerissen und ein Stern katapultartig aus der Zentralregion geschleudert wird. Die Bewegungsrichtung einiger Hyperschnellläufer lässt ein solches Ereignis zwar möglich erscheinen (so z.B. auch für S5-HVS1) – doch zeigte sich bei einigen der hyperschnellen Sterne, dass ihre Lebensdauer gar nicht ausreichen würde, um vom Zentrum bis zu ihrer heutigen Position zu gelangen; sie wären schon längst vorher in einem Sternkollaps erloschen bzw. explodiert.
Alternativ könnte eine Supernovaexplosion in einem Doppelsternsystem dem überlebenden Sternpartner einen solch gewaltigen ‘Tritt’ verpassen (zusätzlich zu seiner Bahngeschwindigkeit, die er bis dahin im Doppelsternsystem hatte), dass dieser auf die beobachteten Geschwindigkeiten beschleunigt wird. Und da die Sterndichte nahe dem Zentrum höher ist als in den Randbezirken, gäbe es einfach mehr Hyperschnellläufer aus dieser Region. Dieser Mechanismus könnte auch für die ‘normalen’ Schnellläufersterne gelten, die einfach nur etwas weniger Explosionsenergie abbekommen hätten. Eine weitere Möglichkeit könnte auch eine Gezeitenwirkung des zentralen Schwarzen Lochs unserer Galaxis auf Zwerggalaxien sein: die Objekte werden dadurch nicht nur zerrissen, einzelne Sterne könnten auch einen finalen Kick bekommen und sich damit auf ihre rasante Reise begeben.
Und kürzlich wurde im Rahmen eines ‘Citizen Science’ Projekts (‘Backyard Worlds: Planet 9 Program’) ein rund 600 km/s schneller L-Unterzwerg entdeckt (was an sich schon bemerkenswert ist, da Sterne dieser Kategorie extrem selten sind). In nachfolgenden Beobachtungen mit dem Keck Observatory konnten Astronomen zeigen, dass der flotte Stern mit dem sperrigen Namen ‘CWISE J124909+362116.0’ vermutlich aus einem Kugelsternhaufen herausgeworfen wurde – mögli-cherweise durch die hypothetische Wechselwirkung mit einem Schwarzen Loch im Zentrum des Haufens.
Aus welchem Haufen ‘CWISE J124909+362116.0’ losgerannt ist, konnten die Wissenschaftler trotz umfangreicher und extrem komplexer Simulationen noch nicht bestimmen. Eingrenzen ließe sich seine Herkunft jedoch weiter über seinen elementaren ‘Fingerabdruck’, also der chemischen Zusammensetzung, die auf seinen Ursprungshaufen schließen lassen könnte.
Und bis es soweit ist, lehnen wir uns entspannt zurück und genießen unsere Reise um unsere zentrale Flamme – die zum Glück nicht nur alle vier Jahre für 16 Tage brennt, sondern tagein, tagaus und das auch noch für die nächsten 4,6 Milliar-den Jahre!
- * A small star with large proper motion
Barnard, E. E.
Popular Astronomy, Vol. 24, p.504 - https://adsabs.harvard.edu/full/1916PA…..24..504B