Astronomie ohne Teleskop – Kalte Dunkle Materie ohne Bedeutung?

Von Steve Nerlich in Universe Today – Übersetzt von Harald Horneff

Rotationskurven der Andromeda-Galaxie. Gemessene Rotationsgeschwindigkeiten der weiter außen gelegenen Sterne werden durch die weiße Linie wiedergegeben, während Geschwindigkeiten, die man aus der abgeschätzten Masse der sichtbaren Materie in der Galaxie erwarten würde, durch die rote Linie dargestellt sind. Daraus leiten wir ab, daß über 80% der Masse dieser Galaxie aus Dunkler Materie bestehen müssen. Quelle: Queens University

Man sollte wohl seine kritische Brille aufsetzen und für das Folgende scharf stellen. Ein italienischer Mathematiker hat sich ein paar komplizierte Formeln ausgedacht, die mit bemerkenswerter Genauigkeit die Rotationskurven von Spiralgalaxien nachbilden können, ohne daß es Dunkler Materie bedarf.

Gegenwärtig stellen solche Rotationskurven Schlüsselbelege für die Existenz der Dunklen Materie dar, da die äußeren Sterne von sich drehenden Galaxien oft so schnell in einer galaktischen Scheibe umlaufen, daß sie in den intergalaktischen Raum geschleudert werden sollten – falls nicht eine zusätzliche und „unsichtbare“ Masse in der Galaxie vorhanden ist, die die Sterne auf ihren Umlaufbahnen mit ihrer Schwerkraft festhält.

Der Sachverhalt kann bei Betrachtung der Keplerschen Bewegung der Planeten in unserem Sonnensystem verstanden werden. Merkur umkreist die Sonne mit einer Umlaufgeschwindigkeit von 48 km/s – während Neptun die Sonne mit einer Bahngeschwindigkeit von 5 km/s umkreist. Im Sonnensystem ist die Nähe eines Planeten zur beträchtlichen Masse der Sonne eine Funktion seiner Umlaufgeschwindigkeit. Wenn also, hypothetisch, die Masse der Sonne irgendwie verringert würde, würde die bestehen bleibende Bahngeschwindigkeit des Neptun diesen aus seiner gegenwärtigen Umlaufbahn nach außen treiben – unter Umständen in den interstellaren Raum hinauskatapultieren, wenn die Masseänderung der Sonne groß genug war.

Die Physik der Milchstraße unterscheidet sich von der des Sonnensystems, da die Masse der Milchstraße viel gleichmäßiger über die galaktische Scheibe verteilt und eben nicht 99% ihrer Masse im zentralen Bereich konzentriert ist – wie im Fall des Sonnensystems.

Trotz alledem, wenn wir eine ähnliche Beziehung zwischen der gesamten Masse der Milchstraße und der Umlaufgeschwindigkeit der äußeren Sterne annehmen, müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die sichtbaren Objekte innerhalb der Milchstraße nur 10 bis 20 % der Masse besitzen, die notwendig ist, um die Umlaufgeschwindigkeit der Sterne in der äußeren Scheibe zu ermöglichen. Daraus schließen wir, daß der Rest dieser galaktischen Masse Dunkle (unsichtbare) Materie sein muß.

Dies ist die gegenwärtige und auch allgemeine Auffassung, wie Galaxien funktionieren – und ein Schlüsselelement im heutigen Standardmodell der Kosmologie von unserem Universum. Carati aber hat sich eine dem Anschein nach unglaubhafte Idee ausgedacht. Rotationskurven von Spiralgalaxien könnten durch den gravitativen Einfluß weit entfernt gelegener Materie erklärt werden, ohne daß man sich überhaupt auf Dunkle Materie berufen muß.

Linkes Bild: die Rotationskurve der Spiralgalaxie NGC 3198 zeigt die wahren Geschwindigkeiten ihrer äußeren Sterne (gezeichnete Punkte), sowie die Geschwindigkeiten, die man wegen der Masse der sichtbaren Materie in ihrer Scheibe erwarten würde – überlagert von dem geschätzten Beitrag der Masse eines Halos aus Dunkler Materie. Rechtes Bild: Carati’s theoretische Kurve, die aus dem Einfluß weit entfernter Materie berechnet wurde und ihre bemerkenswerte Übereinstimmung mit den beobachteten Werten von NGC 3198.

 

Begrifflich macht die Idee wenig Sinn. Positioniert man eine gravitativ bedeutende Masse außerhalb der Umlaufbahn von Sternen, könnte diese Masse die Sterne auf weitläufigere Umlaufbahnen ziehen, aber es ist schwierig zu erkennen, warum sie zu deren Umlaufgeschwindigkeit beitragen sollte. Zieht man aber ein Objekt auf eine weiter außen gelegene Umlaufbahn, sollte dies dazu führen, daß das Objekt mehr Zeit benötigt, die Galaxie zu umlaufen, da seine Kreisumfang größer wird. Wir sehen im Allgemeinen bei Spiralgalaxien jedoch, daß die äußeren Sterne die Galaxie innerhalb derselben Zeitspanne umrunden als die weiter innen gelegenen Sterne.

Aber auch der vorgeschlagene Mechanismus erscheint wenig wahrscheinlich, doch bemerkenswert an Carati’s Behauptung ist: die Mathematik liefert scheinbar galaktische Rotationskurven, die genau die beobachteten Werte von zumindest vier bekannten Galaxien wiedergibt. Doch gibt die Mathematik eine sehr, sehr genaue Passform der Kurve wieder.

Skeptisch betrachtet können folgende Schlußfolgerungen aus diesen Feststellungen gezogen werden:

in den Weiten des Universums gibt es so viele Galaxien, daß es nicht schwer fällt, vier Galaxien zu finden, die der Mathematik genügen

die Mathematik ist rückwärts angepaßt worden, um immer den beobachteten Daten zu genügen

die Mathematik funktioniert einfach nicht oder

obwohl die Interpretation der Daten durch den Autor zur Diskussion stehen, funktioniert die Mathematik tatsächlich.

Die Mathematik greift auf Grundlagen zurück, die in den Einsteinschen Feldgleichungen angesiedelt sind und dies ist problematisch, da die Feldgleichungen auf dem kosmologischen Prinzip beruhen. Das kosmologische Prinzip geht jedoch davon aus, daß die Auswirkungen weit entfernt gelegener Materie vernachlässigbar ist – oder sich zumindest auf großen Skalen ausgleicht.

Verwirrend ist zudem, daß in der Veröffentlichung von Carati zwei weitere Beispiele angegeben sind, wo die Mathematik auch Galaxien wiedergeben kann, bei denen die Rotationsgeschwindigkeiten ihrer äußeren Sterne abnehmen. Dies wird durch den Vorzeichenwechsel in einem der Formelelemente (das + oder – sein kann) erreicht. Also soll auf der einen Seite die weit entfernt gelegenen Materie einen positiven Druck ausüben, um die schnelle Rotation der Sterne aufrecht zu erhalten und zugleich vor dem auseinanderfliegen bewahren – aber andererseits kann sie einen negativen Druck aufbauen, um einen atypischen Abfall in der Rotationskurve einer Galaxie zu unterstützen.

Wie ein Sprichwort sagt: wenn etwas zu gut ist um richtig zu sein – ist es vermutlich nicht richtig.

Weiterführende Literatur (im Internet zu finden unter):

arXiv:1111.5793v1

A. Carati

Gravitational effects of the faraway matter on the rotation curves of spiral galaxies (2011)