Kosmische Cabriofahrt

Dr. Ilka Petermann, Universität Liège

Die Beschleunigung kräftig, der Windstoß heftig – und plötzlich sind Sonnenbrille, Halstuch oder Eistüte verschwunden und eine Spur auf der Straße läßt noch auf den solcherart ‚erleichterten‘ Cabriofahrer schließen. Noch mehr zu verlieren haben Galaxien, die mit mehreren Millionen Kilometern pro Stunde auf das Zentrum einer Nachbargalaxie zurasen und dabei einen eindrucksvollen Gasschweif zurücklassen. Mit dem Spektrographen MUSE am Very Large Telescope ist es erstmalig gelungen, die kosmische Cabriofahrt mit außerordentlicher Genauigkeit zu studieren und damit einer Lösung des alten Rätsels ein Stück näherzukommen – warum wird die Sternentstehung in Galaxienhaufen abgeschaltet und wie schaltet die kosmische Ampel von blau auf rot?
 
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Abb.1: Hubble-Abbildung der Galaxie ESO 137-001, die auf ihrem Weg durch das intragalaktische Medium in Richtung des Zentrums des Norma-Galaxienhaufens Teile ihres Gasvorrates als viele tausend Lichtjahre lange, bläuliche Schweife verliert. NASA, ESA; Ming Sun (Projektleiter des HST Projekts 12377) und Serge Meunier
 
Galaxienhaufen sind gravitativ gebundene Ansammlungen von bis zu einigen tausend Galaxien, deren gesamte Masse bis zu 1015 Sonnenmassen betragen kann. Unsere eigene Galaxie, die Milchstraße, ist zusammen mit der Andromeda-Galaxie und gut 70 weiteren kleineren Galaxien Mitglied des Galaxien-haufens der ‚Lokalen Gruppe‘. Der weitaus größte Teil, etwa 80 %, besteht aus sogenannter Dunkler Materie, die sich zwar durch ihre Gravitation bemerkbar, aber sonst ihrem Namen alle Ehre macht. Ihre Natur ist eine wesentliche, offene Frage der Kosmologie. Die leuchtenden Sterne und ihre Planeten machen den beeindruckendsten, aber mit 5 % geringsten Anteil der Masse aus, die restlichen 15 % bestehen aus einem heißen, dünnen Gas, das den Galaxienhaufen durchzieht und  durch Röntgenstrahlung beobachtbar wird.
Eine Galaxie, die sich mit hoher Geschwindigkeit durch dieses Gas bewegt, weil sie etwa die gravita-tive Anziehung einer benachbarten Galaxie erfährt, wird einem Strömungswiderstand ausgesetzt – vergleichbar dem Luftwiderstand, der den Cabriofahrer letztendlich die Sonnenbrille gekostet hat. Im Falle der bewegten Galaxie wirkt sich der Widerstand auf die interstellare Materie, die hauptsächlich aus neutralem und ionisiertem Gas sowie Staub besteht, aus. Bei ihrem Ausflug kann die Galaxie somit große Mengen an Gas verlieren, das als viele tausend Lichtjahre lange Filamente sichtbar wird.
Für Astronomen bietet die Analyse der Schweife eine wertvolle Möglichkeit, Informationen über die Ursprungsgalaxie, ihre Umgebung und die Turbulenzen, die zur Mischung der verschiedenen Gas-komponenten beitragen, zusammenzutragen.
Einzelnen Galaxien können neben ihrer Morphologie auch über ihre Spektren, also letztendlich über ihre Farbe beschrieben werden. Galaxien mit einem sehr blauen Spektrum enthalten immer viele junge und heiße Sterne und es ist noch genügend Gas vorhanden, aus dem weiterhin neue Sterne entstehen können. In diese Kategorie fallen insbesondere Spiralgalaxien und irreguläre Galaxien; erstere fallen oft durch ihre bläulich leuchtenden Spiralarme auf.
Im Gegensatz dazu stehen die elliptischen Galaxien, deren Spektrum von alten und daher roten Sternen dominiert wird. Sie sind von der blauen Überholspur auf den roten Standstreifen gewechselt: da ihr Gasvorrat schon lange aufgebraucht ist, können keine neuen Sterne mehr entstehen.
Der Übergang einer Galaxie von ‚blau‘ zu ‚rot‘, der auf verhältnismäßig kurzen Zeitskalen stattfindet, sowie die Änderung ihrer Struktur lässt noch immer viele Fragen offen.
Das Instrument MUSE (Multi Unit Spectroscopic Explorer), das an das Very Large Telescope (VLT) auf dem Cerro Paranal in der Atacama-Wüste in Chile angeschlossen ist, bietet exzellente Möglichkeiten zum Studium von Morphologie, Farbe und Dynamik von Galaxien, die sich gerade auf einem galaktischen Ausflug befinden. MUSE verbindet zwei grundlegende astronomische Techniken: Spektrographie und optische Abbildung. Erstere zerlegt das ankommende Licht in seine verschiedenen Farben und leitet das so gewonnene Spektrum an einen Detektor für eine genaue Analyse weiter. Eine räumliche Auflösung dieser Instrumente ist zumeist aber recht eingeschränkt. Optische Instrumente dagegen decken zumeist ein weites Beobachtungsfeld ab, sind dafür aber recht grob in ihrer Auflösung der Wellenlänge. Der kosmische ‚Blitzer‘ MUSE wurde nun so konzipiert, dass er an beiden Fronten arbeiten kann: sowohl eine sehr hohe räumliche Auflösung, als auch eine hervorragende Abdeckung aller möglichen Wellenlängen. Dabei arbeitet das Instrument sehr effizient – eine Beobachtungszeit von einer Stunde genügt, um sowohl hochaufgelöste Aufnahmen einer Galaxie zu erhalten  als auch zur Erfassung von Bewegung und Verteilung des Gases. Gerade letzteres ist ein bedeutender Fortschritt. Das Hubble Space Telescope konnte etwa spektakuläre Bilder des Vorgangs liefern (Abb.1), aber nicht die Dynamik des Gases erfassen.
Neben den Bildern wurden so für einzelne Pixel zusätzlich die Spektren bestimmt – etwa 90.000 Datensätze konnten für einen Beobachtungszyklus zusammenkommen. Im Vergleich: Frühere Studien sammelten in vergleichbarer Zeit gerade einmal 50 Spektren.
Der Norma-Galaxienhaufen (auch Abell 3627; Abb.2) ist mit nur 210 Millionen Lichtjahren einen (in kosmischen Maßstäben) Wochenendausflug von uns entfernt. Zum Vergleich: der Coma-Haufen, der durch seine relative Nähe für die Erforschung der großräumigen Verteilung der Galaxien eine große Rolle gespielt hat, ist 400 Millionen Lichtjahre entfernt. Und der im Jahr 2010 entdeckte, bis jetzt entfernteste Haufen bringt es sogar auf 9.6 Milliarden Lichtjahre.  Trotz seiner Nähe ist ‚Norma‘, der an der Grenze des Sternbilds Winkelmaß zum Südlichen Dreieck liegt, recht schwer zu beobachten, da er in Richtung der ‚Kante‘ unserer Milchstraße liegt. Vordergrundsterne, Gas und Staub verdecken ihn und so wurden die meisten Teleskope anderen Zielen zugewandt. Das änderte sich erst, als Donald Lynden-Bell die Hypothese eines ‚Großen Attraktors‘ aufstellte, der alle umliegenden Galaxien solcherart beeinflusst, daß ihre beobachteten Bewegungen erklärt werden könnten. Seit  Mitte der 1990er gilt diese Annahme als bestätigt und ‚Norma‘ wurde als Bestandteil eben dieses Großen Attraktors bestätigt.
 
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Abb.2: Der Norma-Galaxienhaufen (Abell 3627) im Sternbild Winkelmaß, Heimat von ESO 137-001, 2P2 Team, WFI, MPG/ESO 2.2-m Telescope, La Silla, ESO
 
Eine im Norma-Cluster beheimatete Spiralgalaxie, ESO 137-001, hat sich auf die Reise zum Mittel-punkt von Norma gemacht. Mit einigen Millionen Kilometern pro Stunde pflügt sie durch das intra-galaktische Medium. Durch den Strömungswiderstand wird sie dabei Stück für Stück ihres Gasvorrates beraubt. Zuerst in den gravitativ weniger stark gebundenen Armen, die schon weitgehend gasfrei sind; das Zentrum hat seinen Gasproviant vorläufig noch behalten. Mehrere, bis zu 200.000 Lichtjahre lange Gasschweife liefern den Beweis für die Verluste von  ESO 137-001. Hierbei zeigte sich, daß die Schweife weiterhin die gleiche Rotation wie ihre Ursprungsgalaxie aufweisen und daß auch die Umlaufbahnen der Sterne der Galaxie ungestört bleiben. Das schließt die Möglichkeit aus, daß die Veränderungen ihren Ursprung in Gravitationswechselwirkungen haben. Die Farbänderung und die Modifikation der äußeren Erscheinung können somit weitgehend auf den ‚Strömungswiderstand‘ zurückgeführt werden.
Weiterhin konnte so auch ein Mechanismus aufgezeigt werden, wie aus einer blauen Sternentstehungs-Galaxie auf vergleichsweise kurzer Zeitskala eine – zumindest teilweise – rötliche und damit stark gealtert erscheinende Galaxie zustande kommen könnte.
Und so scheint wohl oder übel in den Weiten des Alls genauso wie auf irdischen Straßen zu gelten, dass zu schnelles Fahren der Gesundheit nicht wirklich zuträglich ist… Aber immerhin: kosmische ‚Blitzerfotos‘ sind ausgesprochen beeindruckend anzuschauen!
 


Literatur:
arXiv:1407.7527v2 [astro-ph.GA]
Michele Fumagalli, Matteo Fossati, George K. T. Hau, Giuseppe Gavazzi, Richard Bower, Ming Sun, Alessandro Boselli
“MUSE sneaks a peek at extreme ram-pressure stripping events. I. A kinematic study of the archetypal galaxy ESO137-001”
oder unter
https://www.eso.org/public/archives/releases/sciencepapers/eso1437/eso1437a.pdf
 
Informationen und weitere Links zu MUSE finden sich auf der ESO Webseite https://www.eso.org/sci/facilities/develop/instruments/muse.html