Astronomie ohne Teleskop – Wie durch eine dunkle Linse

Von Steve Nerlich in Universe Today – Übersetzt von Harald Horneff

Eine Gravitationslinse – blasse Hinweise auf einen Einstein-Ring, der sich um Lichtquellen geformt hat, die durch die Krümmung der Raumzeit wie eine Linse wirken. Wäre der Galaxiencluster, der die Krümmung verursacht, so in der Ebene orientiert, daß er frontal (Face-on) zur Erde stehen würde, würde der Einstein-Ring viel deutlicher ausgeprägt sein.


Massereiche Galaxiencluster, die fast genau Face-on zur Erde orientiert sind, können einen starken Gravitationslinseneffekt erzeugen. Doch haben verschiedene Durchmusterungen solcher Cluster zu der Schlußfolgerung geführt, daß diese Cluster eine Tendenz aufweisen, die in Richtung eines zu starken Linseneffekts geht. Er ist zumindest stärker, als auf Grund ihrer erwarteten Masse berechnet.
Diese Unstimmigkeit ist als das „over-concentration“-Problem bekannt (den Wissenschaftlern, die auf diesem Gebiet arbeiten) und scheint auf den ersten Blick ein Fall von fehlender Masse zu sein. Aber anstatt nun einfach alles auf die „Dunkle Materie“ zu schieben, gehen die Forscher weiteren genauen Beobachtungen nach – und sei es auch nur, um andere mögliche Ursachen auszuschließen.
Der Sunjajew-Zeldovich-Effekt (SZ-Effekt) ist eine neue Methode, den Himmel nach massereichen Objekten, wie Galaxiencluster – welche die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung (CMB) durch inverse Compton-Streuung verändern – abzusuchen. Photonen (in diesem Fall Photonen des CMB), die mit sehr energiereichen Elektronen wechselwirken, werden zu kürzeren Wellenlängen ver-schoben, da sie von den Elektronen während der Kollision Energie übernehmen.
Der SZ-Effekt ist weitgehend unabhängig von der Rotverschiebung. Er verursacht Änderungen in der CMB in der Größenordnung von einem Tausendstel Kelvin und setzt extrem massereiche Strukturen voraus – eine einzelne Galaxie hat für sich allein nicht genügend Masse, um den SZ-Effekt hervorzu-rufen. Doch wenn der SZ-Effekt auftritt, bietet er eine Methode, die Masse eines Galaxienclusters zu messen und dies auf eine Art und Weise, die gänzlich anders geartet ist als die Gravitationslinsen-Methode.
Man vermutet, daß der SZ-Effekt durch Elektronen im Interclustermedium vermittelt wird. Dies be-deutet, daß der SZ-Effekt einzig auf die baryonische Materie zurückzuführen ist, da er die Folge des inversen Compton-Effekts ist. Der Gravitationslinsen-Effekt ist dagegen das Ergebnis der Verzerrung der Raumzeit – eine Verzerrung, die zum Teil auf die Anwesenheit der baryonischen Materie, aber auch auf die Dunkle (nichtbaryonische) Materie zurückgeht.
Gralla et al. nutzten das aus acht 3.5-Meter-Radioteleskopen bestehende Sunjajew-Zeldovich-Array in Kalifornien, um 10 Galaxiencluster mit starker Linsenwirkung zu untersuchen. Durchgehend war zu beobachten, daß bei jeder Gravitationslinse der Einsteinradius etwa den doppelten Wert aufwies als man auf Grund der vom SZ-Effekt abgeleiteten Masse für jeden Cluster erwartete.
Der Einstein-Radius ist ein Maß für die Größe des Einstein-Rings, der sich formen würde, wenn ein Galaxiencluster exakt in Face-on-Lage zur Erde stände – und wo der Beobachter, die Linse und die entfernt gelegene, vergrößerte Lichtquelle gemeinsam eine gerade Sichtlinie bilden. Starke galaktische Linsen sind im Allgemeinen nur eine sehr gute Näherung dieser Geometrie, aber ihr Einstein-Ring und -radius (und damit ihre Masse) kann leicht abgeleitet werden.
Gralla et al. weisen darauf hin, daß es sich um eine laufende Arbeit handelt, die vorläufig das in anderen Durchmusterungen gefundene „over-concentration“-Problem bestätigt. Sie schlagen als eine Lösungsmöglichkeit vor, daß die Menge an Materie im Raum zwischen den Clustergalaxien geringer sein könnte als erwartet. Das würde bedeuten, daß man mit dem SZ-Effekt auf einen zu niedrigen Wert für die tatsächliche Masse eines Clusters kommt.
Wenn andererseits das „over-concentration“-Problem ein Effekt der Dunklen Materie ist, dann wäre in solchen Galaxienhaufen mehr Dunkle Materie vorhanden als das gegenwärtige „Standardmodell“ der Kosmologie vorhersagt. Bevor die Wissenschaftler aber so weit gehen, sind sie darauf aus, erst weitere Beobachtungen durchzuführen.
Weiterführende Literatur (im Internet zu finden unter):
arXiv:1011.6341v1
Megan B. Gralla et al.
Sunyaev Zel’dovich Effect Observations of Strong Lensing Galaxy Clusters: Probing the Over-Concentration Problem (2010)
Für Interessierte hier Einsteins Brief zum Thema Linseneffekt und Ringe:
Science 84 (2188): 506–507 (1936)
Einstein, Albert
Lens-like Action of a Star by the Deviation of Light in the Gravitational Field (1936)